Die Insel der Verlorenen - Roman
und Kinder auf ihre Strohsäcke oder in ihre Hängematten, woraufhin in dieser ersten Hälfte des Nachmittags eine so vollständige Stille und Reglosigkeit eintrat, dass sie weniger einer Mittagsruhe als vielmehr einer zweiten Nachtruhe glich. Die Initiative des Trompeters Carvajal, um vier Uhr nachmittags das Wecksignal zu blasen, um die Truppe, genau wie am Morgen, aus dem Schlaf zu holen, bewirkte eine chronologische Veränderung in ihrer aller Gemüt. Von nun an erlebten sie nämlich innerhalb von 24 Stunden zwei kurze Tage und zwei lange Nächte, brachten zehn Stunden wach und vierzehn schlafend zu.
Ramón sah sich im Traum Mäuse essen, und als er aufwachte war ihm übel, dazu hatte er einen verdorbenen Geschmack im Mund. Er stand auf, stellte sich vor den zerbrochenen Spiegel an der Wand und sah, dass sein Zahnfleisch schwarz war.
»Mich hat es erwischt«, sagte er. »Ich habe Skorbut.«
Es war eine tödliche Krankheit, ein geradezu biblischer Fluch, und Ramón fürchtete schon seit Jahren, dass sie Clipperton heimsuchen könnte. Das Übel befiel all jene, die lange kein frisches Obst und Gemüse mehr zu essen bekommen hatten und somit an einem Mangel an Ascorbinsäure litten. Es war die Strafe der Matrosen und Schiffbrüchigen, die scharenweise daran zugrunde gingen. Aufgrund seiner ausgiebigen, obsessiven Lektüre zum Thema wusste Ramón, dass ihre Folgen verheerend waren. Vasco da Gama war mit einer Besatzung von fünfhundert Mann von Portugal nach Indien gesegelt, aber bevor das zweite Reisejahr zur Neige ging, hatte der Skorbut sie um die Hälfte dezimiert. Ferdinand Magellan konnte auch ein Lied davon singen, als er drei Monate und zwanzig Tage, abgeschieden von der Welt, nur Mehl, Sägemehl und Ratten zu essen bekam. Die britische Marine, die während des nordamerikanischen Bürgerkriegs eine Stärke von 72000 Mann zählte, verlor 1200 auf dem Schlachtfeld, 42000 durch Fahnenflucht und 18000 an den Skorbut.
Ramón war seit sieben Jahren auf der Hut und lauerte auf das Auftreten der Symptome bei anderen, aber er hätte nie damit gerechnet, dass er der Krankheit als Erster zum Opfer fallen könnte. Er trat ganz dicht an die Spiegelscherbe heran und untersuchte eingehend seine Mundhöhle. Das Zahnfleisch war gewuchert und zerdrückt, und am Unterkiefer entdeckte er auf der linken Seite eine winzige Eiterpustel.
»Ich fange schon an zu verfaulen«, sagte er und bekreuzigte sich.
Ausgerechnet jetzt musste ihn diese Seuche befallen. Ausgerechnet jetzt, da er endlich in Frieden lebte. Denn jedem äußeren Anschein und jeder Vermutung zum Trotz, war dieses Jahr, das sie in völliger Verlassenheit zugebracht hatten, ein gutes Jahr gewesen. Das wurde ihm jetzt klar. Durst hatten sie keinen gelitten. Es gab häufig Regenperioden, und da der Orkan die Zisternen intakt gelassen hatte, konnten sie genügend Wasser sammeln und für die Zeiten der Trockenheit speichern. Im Gegensatz zum üblichen Schicksal Schiffbrüchiger bedrohte das Wasser die von Clipperton nicht etwa durch sein Fehlen, sondern durch sein Übermaß, denn kaum gab es Niederschläge, war die Insel überschwemmt und sie wurden fortgespült, wenn sie keine Vorkehrungen trafen. An Lebensmittelknappheit hatten sie auch nicht wirklich gelitten. Sie lernten zu fischen und sich fast ausschließlich aus dem Meer zu ernähren; denn die von Kapitän Williams gelieferten Vorräte teilten sie mit der Pipette ein und streckten sie über Monate. Ramón hatte Gelegenheit, sich dem Kochen zu widmen, das seit jeher zu seinen liebsten Freizeitbeschäftigungen gehörte. Er verfeinerte einige Rezepte bis zur Raffinesse, so seinen Eintopf aus Landkrabben und Schnecken in Kokosmilch, seinen Krabbencocktail und seinen Schmortopf mit Schildkröten in der Tinte des Kalmars. Wie einen Schatz hütete er ein paar Dosen Olivenöl, und schlug bei besonderen Anlässen ein wenig davon mit Eigelb zu seiner beliebten Mayonnaise, die er als Beilage zu den Langusten servierte.
Als ihnen das Kerosin ausging, mit dem sie ihre Lampen und das Leuchtfeuer speisten, schickte ihnen der Himmel – vielmehr das Meer – Brennstoff in Gestalt eines toten Wals, den die Flut anschwemmte, auf dass er an Clippertons Strand in Frieden ruhte. Erst forschten, dann weideten sie diesen ozeanischen Fleischberg aus, gewannen daraus Leder, Nahrung und mehrere Fässer eines schwarzen zähflüssigen, stinkenden Öls, das mit reiner goldener Flamme brannte.
Zudem war dies eine Zeit der Offenbarungen,
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