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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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liebenswerten Dinge, die bis dahin überdauert hatten, die armseligen Überbleibsel einer untergegangenen Welt.
    Aber niemand wurde gesund, allen ging es schlechter. Die Haut fiel ihnen in Placken vom Körper, bis das rohe Fleisch zutage trat. Ihre Abwehr war so geschwächt, dass weitere Krankheiten folgten, Anämie, rheumatisches Fieber, Bronchitis, Leukämie, Diarrhö und Depressionen.
    Die Gläubigen verloren die Geduld.
    »Du alte Betrügerin, wenn du uns nicht gesund machst, dann ertränken wir dich in der Lagune«, brüllten sie eines Tages mitten in einem ihrer Götzendienste los.
    Da verlangte sie von ihnen Opfer. Sie sagte, ihre Schuld sei so groß, dass sie nur mit Blut abgewaschen werden könne. Sie gehorchten ihr und warfen die frisch geworfenen Ferkel einer Sau ins Feuer. Außerdem bildete sich eine Bruderschaft von Geißlern, die über die Insel liefen und sich mit Peitschen den Rücken blutig schlugen.
    Die von Feldwebel Irra angeführten Geißler kasteiten sich selbst und rächten sich an allem, was sich in ihrer Umgebung befand. Schwach und siech wie sie waren, bildeten sie eine jammernswerte Horde von Vandalen und Plünderern. Ihre Standarte war ein Bündel Skalpe, die sie den Toten abgerissen hatten, ihr Credo lautete »Es lebe der Tod« und ihre Hymne war das Salve Regina, Herrscherin des Himmels. Mit denselben Gerten und Knüppeln, mit denen sie sich das Fleisch zerschunden, schlugen sie Tiere tot und Hütten ein, zertrümmerten Wasserbehälter und plünderten die klägliche Vorratskammer. Sie hätten mit ihren Macheten auch noch die Kokospalmen gefällt, wenn Ramón und Cardona sie nicht mit Gewehrschüssen von dort vertrieben hätten.
    Solange Arnaud die Befehlsgewalt ausübte, wurde nur auf dem Friedhof bestattet. Aber als Clipperton zum Niemandsland wurde, gruben die Hinterbliebenen den Ihren ein Loch, wo es gerade ging. Schließlich war die Insel übersät von Gräbern. Manche – die wenigsten – waren mit einem Holzkreuz oder einem Steinhaufen gekennzeichnet. Und als es am Ende mehr Tote als Lebende gab, warfen Letztere die Leichen einfach in die Lagune oder ins Meer.
    Arnauds Autorität war zusammengebrochen. Mit seinen Appellen an den gesunden Menschenverstand und seinen Kokoswässerchen kam er gegen die magischen und mystischen Einflüsterungen der Doña Juana nicht an. In einem letzten Versuch, den Wahnsinn in vernünftige Bahnen zu lenken, ging er zur Lagune, und war entschlossen, die Alte zur Rede zu stellen.
    »Du bist weder Priesterin noch Ärztin, noch irgendwas«, brüllte er sie im Beisein ihrer Untertanen an. »Du bist nichts weiter als eine verrückte Alte, und hiermit verbiete ich dir, die Leute weiter mit deinem Irrsinn anzustecken.«
    »Du hast hier nichts mehr zu sagen, Arnaud«, setzte sie ihm entgegen. »Und ich auch nicht. Hier spricht nur noch der Tod. Leg dich in Frieden sterben und lass die anderen sterben wie sie wollen.«
    Ramón kehrte der Stätte ohne ein weiteres Wort den Rücken und fand sich damit ab, mit seiner Familie, Altagracia, Tirsa, Cardona, drei Witwen samt ihren Kindern und einer Vollwaise in seinem Haus unter sich zu bleiben. Die Insel spaltete sich in zwei Lager – die Siedlung der Hebamme und das Haus der Arnauds –, die immer weniger miteinander zu schaffen hatten, bis sie sich schließlich ignorierten, als läge der Ozean zwischen ihnen.
    Die Hausgemeinschaft organisierte Tag und Nacht einen Wachdienst, um die Übergriffe der Geißler abzuwehren, aß wider jede Hoffnung weiterhin Kokosnüsse und trank weiterhin den Sud aus den Schalen. Sogar Ramón tat es längst nicht mehr aus Überzeugung, vielmehr äußerte sich darin, so irrational es auch sein mochte, sein letzter Funken Lebenswillen.
    Während der anhaltenden Niederschläge drangen durch die Vorhänge aus Wasser verschwommene Signale von der anderen Seite zum Haus: das Wehgeschrei der Todgeweihten, der Rauch der Lagerfeuer, die frommen Lieder der Geißler. Nacht für Nacht hörten sie sich ein wenig schwächer an, ein wenig unwirklicher, wie Stimmen aus dem Jenseits, die sich entfernten. Wie das Echo eines Albtraums kurz vor dem Erwachen.
    Dann hörte von einem Tag zum anderen die Regenperiode auf. Der Himmel häutete sich wie eine Schlange und strahlte in neuem Glanz. Rein, unschuldig und blau. Die Arnauds und ihre drei Kinder, die Cardonas und auch die anderen Hausbewohner waren am Leben geblieben. Und sie waren gesund. Sie waren die einzigen Überlebenden der Insel

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