Die Insel der Verlorenen - Roman
gerader Linie darauf zuhalten, dann schneiden wir ihm den Weg ab. Komm, los, sonst ist es weg! Jetzt oder nie!«
»Lass uns lieber mit dem Feuer weitermachen, Ramón … «
»Spinnst du? Ein Schiff kreuzt vor unserer Nase, unsere einzige Hoffnung zu überleben, und du willst Lumpen verbrennen!«
»Aber, ich sehe kein Schiff … und einfach so aufs Meer rausfahren, das wäre bescheuert.«
»Aha!«
»Warte, Mann, hör doch zu, das überleben wir nicht … «
»Natürlich überleben wir das, darum geht es doch gerade. Wenn es uns sieht, sind wir gerettet!«
»Nimm es mir nicht übel, aber kann es sein, dass du das Gespensterschiff vom Fliegenden Holländer siehst?«
»Du gottverdammtes Aas, Cardona. Du bist sturer als ein Maulesel und dümmer als ein Chamula-Indio!«
»Keine Beleidigungen, bitte, so schlimm ist es nun auch wieder nicht.«
»Na gut, ich nehme es zurück, aber hol die Ruder, ich bitte dich!«
Leutnant Cardona holte die Ruder.
»Hier hast du sie, aber ich … ganz ehrlich, ich sehe kein Schiff. Ich weiß nicht, Ramón, ich habe auch Alicia und Tirsa gefragt, und sie sagen, dass sie auch keines sehen.«
»Hör nicht auf sie. Frauen sehen gut auf kurze Distanz, aber auf lange sehen sie schlecht.«
»Und du siehst mit den Augen des Glaubens … «
»Komm mir jetzt nicht mit Predigten. Sie werden uns sehen und sie werden uns retten. Wir werden gerettet werden, Secundino. Auf, komm jetzt!«
»Aber das Meer ist heute so stürmisch, Bruder … «
»Das macht nichts. Los!«
»Aber schau doch nur, das Meer, es wird uns umbringen!«
»Kein Wort mehr«, sagte Arnaud nun ruhiger und in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Wir fahren mit dem Kahn raus, das ist ein Befehl. Was ist mit den Frauen? Wo ist das Feuer?«, sagte er und hob erneut die Stimme. »Was haben die sich eigentlich gedacht, dass wir es morgen anzünden?«
Die Frauen brachten Treibgut und Müll, um Feuer zu machen, und suchten mit den Augen den Horizont ab. Sie bewegten sich ohne Entschlossenheit, wie Automaten.
»Glaubt mir denn hier überhaupt niemand?«, ereiferte sich Arnaud. »Na, ihr werdet schon sehen. Lass uns gehen, Cardona!«
Die beiden Männer verstärkten hastig die Verbindungen des Kahns.
»Fertig«, verkündete Arnaud.
»Oh, Jesus Christus, jetzt bist du wirklich durchgeknallt, Ramón. Ist gut, ich komme mit, aber eins muss klar sein: Ich sehe kein Schiff. Ich mache nur mit wegen dem Beide-lebendig-oder-beide … «
»Beide lebendig oder beide lebendig«, unterbrach ihn Arnaud, »beide lebendig, Bruder, … unsere Pechsträhne ist vorüber.«
Dann ging Ramón auf seine Frau zu.
»Bingleichzurück«,sagteerzuihr.»MachdieKinderfertig,weilwirheuteabreisen.Hörstdu,Alicia?Nochheute.WirwerdendeinenVatersuchenunddieKinderindieSchuleschicken.DuwirstendlichdasLebenführen,dasduverdienthast.«
»Ich verstehe nicht«, sagte sie mit erstickter Stimme.
»Da gibt es nicht viel zu verstehen. Letztes Mal wollte ich dableiben, das war ich Mexiko schuldig. Aber jetzt will ich weg. Ich will deinetwegen weg.«
»Aber womit … «
»Mit dem Schiff da, schau doch!«
Ramón sprach mit so viel Überzeugtheit und legte solchen Nachdruck in seine Worte, dass Alicia, die bisher kein Schiff gesehen hatte, es endlich auch sehen konnte. Metallisch, glaubwürdig und nah. Auf dem Grund der Pupillen ihres Mannes.
Er drückte ihr flüchtig einen Kuss auf die Stirn und lief, den Kahn hinter sich herziehend, zum Meer. Alicia stand stumm und stocksteif da, starr vor Furcht.
Während er über den Strand hinter Arnaud herhumpelte und ihn einzuholen versuchte, drehte sich Secundino Ángel Cardona nach Tirsa um.
»Adiós, Süße«, rief er. »Für immer!«
Der letzte Mann
Colima
– heute –
Colima ist eine kleine Stadt, weiß, ruhig, mit Palmen und derselben Stimmung, demselben Rhythmus und der gleichen Ausstrahlung wie viele Städte in Meeresnähe. Nur liegt Colima weit weg vom Meer: zwei Stunden landeinwärts vom Hafen Manzanillo am Pazifik. Ich befinde mich in den Außenbezirken, genauer im Busbahnhof. Es ist sehr heiß und ich habe keine Adresse, wo ich hinkönnte. Ich bin hergekommen, um nach der Vergangenheit von Victoriano Álvarez, dem Schwarzen, zu forschen, und weiß nur wenig über sein Leben außerhalb Clippertons: dass er hier geboren ist, dass er früh von zu Hause wegging, um nie zurückzukehren, und dass er keine Kinder hinterlassen hat. Sonst nichts. Ich nehme ein Taxi und gebe als Ziel den Zócalo an, weil
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