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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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Clipperton.
    »Gesegnet sei die heilige Kokosnuss«, sagte Ramón und lief mit seinen Kindern zum Strand hinaus, um sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen.

Clipperton
    – 1915 –
    »Secundino … da, schau, ein Schiff!«, sagte Ramón Arnaud an einem stillen grauen Morgen.
    Alles lag friedlich da, bis auf das Meer. Inmitten der trägen Unbewegtheit von Himmel und Erde staute sich die Brandung zu Wellenbergen, die sich am Riff brachen.
    Ramón und Secundino Cardona saßen schon seit Stunden am Strand und schlugen die Zeit tot. Der Verwesungsgestank wollte nicht vergehen und wehte hin und wieder zu ihnen herüber, ohne dass sie ihn noch bemerkten. Sie hatten sich daran gewöhnt, dieses faulig süßliche Kitzeln in der Nase zu spüren, und konnten sich nicht mehr recht entsinnen, wie reine Luft eigentlich roch. Als ein paar Wochen zuvor der Regen ebenso jäh aufhörte, wie er begonnen hatte, waren sie zum Hügel der Hebamme gelaufen und hatten nichts mehr vorgefunden als lauter Leichen. Gemeinsam hatten sie diese zu einem Haufen aufgestapelt und in Brand gesetzt. Sie opferten auch ein paar Schweine, die sich marodierend des Kannibalismus schuldig gemacht hatten, und verbrannten sie gleich mit, weil sie keine Tiere essen wollten, die sich an Menschenfleisch gütlich getan hatten. Anschließend verließen sie die Stelle und kehrten nie wieder dorthin zurück.
    Der Tod hatte die Insel in einen verseuchten, geschändeten Ort verwandelt, und die Überlebenden beschränkten sich fortan auf die Umgebung von Arnauds Haus – die einzige unbefleckte Stelle. Sie vergaßen sogar den Leuchtturm, weil sie nie mehr zum Südfelsen gingen, und nur einmal am Tag ihren Wohnbereich verließen, um Kokosnüsse aufzulesen. Das Wenige, was sie hatten, das hatten sie in Reichweite, und sie behielten den Reflex bei, zusammen loszugehen, in einer dichten Traube, als begebe sich jeder, der sich daraus löste, in größere Gefahr als die anderen. Als würden noch immer Seuchen und Unheil auf der Insel ihr Unwesen treiben. Sie waren zwar am Leben, aber der Tod war zu dicht an ihnen vorübergezogen, um keine Spuren zu hinterlassen. Sie wurden ängstlich und abergläubisch, und der Gott anderer Zeiten gewann in ihren Gemütern wieder an Bedeutung. Der einzige, der allmächtige Herr, unser Gott, Anfang und Ende aller Dinge: das Schiff, das ihnen Rettung brächte.
    Sich am Strand fläzend, schlossen die beiden Männer Wetten aufs Steineschnippen: Wenn sich die Welle in einer Geschwindigkeit zurückzog, dass das Wasser für einen Moment glatt wie gehärtetes Glas dalag, zielten sie schräg mit Steinen darauf und ließen sie über die Oberfläche hüpfen. Cardona gewann immer. Seine Steine sprangen vier, fünf Mal, Arnauds zwei oder drei Mal.
    »Ein Schiff, ein Schiff!«, rief Ramón plötzlich.
    »Wie denn das?«, fuhr Cardona zusammen. »Was für ein Schiff?«
    »Ich kann es nicht mehr sehen, aber ich schwöre dir, ich habe ein Schiff gesehen.« Beide standen auf und schauten aufs Meer, die Hand über den Augen gegen die blendende Sonne.
    »Da ist es wieder!«, sagte Arnaud unversehens. Es ist ziemlich groß! Sieh doch nur, es kann nicht sein, dass du es nicht sehen kannst! Es kreuzt von Osten nach Westen … «
    »Alsoichseheverdammtgarnichts … Und,kommtzuuns?«
    »Sieht nicht so aus … Es entfernt sich, verflucht!«, Arnaud klang außer sich. »Los, lass uns Feuer anzünden, Cardona! Los, geben wir ihm Rauchzeichen!«
    »Meinetwegen, obwohl ich kein Schiff sehen kann«, willigte Cardona ein und ging ein Feuer anzünden. Alicia, Tirsa und die anderen Frauen kamen, von dem Geschrei angelockt, nun auch herbei.
    »Bringt mir Lumpen, Bretter und alles, was brennt«, bat sie Cardona. »Wir wollen einem Schiff Zeichen geben.«
    »Was für einem Schiff?«
    »Einem, das Ramón sieht.«
    Arnaud, der sich ein Stück von ihnen entfernt hatte, kam jetzt zurückgelaufen. Das Blut pulsierte in seinen Adern und er stotterte vor Erregung.
    »Jetzt bin ich ganz sicher!«, schrie er. »Da hinten fährt ein Schiff, so sicher wie das Amen in der Kirche.«
    »Jetzt mal im Ernst, Ramón, mach keinen Scheiß«, sagte Cardona.
    »Los, Cardona, komm, lass uns die Zeit nicht mit Lagerfeuern verplempern, wir setzen ihm mit dem Kahn nach.«
    »Mit dem Kahn?«, diesmal war es der Feldwebel, der schrie. »In diesen vier zusammengenagelten Brettern. Damit können wir doch kein Schiff verfolgen, nicht mal ein vorhandenes.«
    »Es ist noch weit entfernt. Wenn wir in

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