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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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Städte im Zentrum ihre alten Geschichten konservieren wie in Formol. Ich streife durch die Straßen rund um den Platz und stelle fest, dass er sich seit Beginn des Jahrhunderts kaum verändert hat. Es herrscht eine sirrende Hitze, und es wäre einfacher, eine Nadel im Heuhaufen zu finden, denke ich. Einundsiebzig Jahre nach seinem Tod, wer wird da noch etwas über den unbekannten Soldaten sagen können? Wer sollte sich dieses der Erinnerung Unwürdigsten unter den Mexikanern entsinnen?
    Am Stadttor von Medellín gibt es einen Ort, an dem Colimas Bewohner seit mehreren Generationen ein- und ausgegangen sein müssen. Es ist ein Laden mit einer riesigen, alten Theke aus dunklem Holz. Draußen hängt ein Schild mit der Aufschrift: »Dies ist das altehrwürdige und hoch geschätzte Haus Ceballos, 1893.« Innen wird alles verkauft, vom Werkzeug bis zur Unterhose. Der Inhaber, Don Carlos Ceballos, hat das Geschäft vor über fünfzig Jahren als Erbe übernommen. Er ist ein zuvorkommender Herr aus besseren Zeiten. Ich erzähle ihm, was ich suche, und bitte ihn um seine Mithilfe, worauf er mich auf den Nachmittag vertröstet, da soll ich wiederkommen, er werde eine Gruppe von Leuten zusammentrommeln, die über die gewünschten Auskünfte verfügen könnten.
    Stunden später hat Don Carlos im unmittelbar neben seinem Laden gelegenen Hotel Ceballos mehrere Freunde und persönliche Zeitgenossen versammelt. Es sind Honoratioren, Historiker und Journalisten der Stadt.
    »Sein Nachname war Álvarez, er stammte aus Colima und war schwarz?«, will er wissen. »Es gibt nur eine Familie mit diesen Merkmalen: die unehelichen Nachkommen unseres hoch geachteten Generals Manuel Álvarez, dem ersten Gouverneur des Staates.«
    »Aber die Álvarez von Colima«, klären sie mich auf, »sind nicht reinrassig schwarz, es sind Mulatten.«
    Mitten auf dem Platz von Villa Álvarez kann man den Großvater väterlicherseits von Soldat Victoriano Álvarez bestaunen: General Manuel Álvarez, in Bronze gegossen, thront da als Herr und Gebieter der Stadt auf einem Sockel. Im Sitzungssaal des Rathauses von Colima ist er noch einmal auf einem Ölbild zu sehen, darunter prangt sein Name in Goldlettern. Er ist ein korpulenter Mann mit spitzen Zügen. Weiß wie Milch.
    An der Straßenecke 5 de Mayo und Venustiano Carranza befinden sich die Überreste seines Hauses, eines eingeschossigen Kolonialbaus. Die Fassade steht noch, das dahinterliegende Gebäude ist jedoch bei den Erschütterungen der letzten Erdbeben von Colima teilweise eingebrochen. Die Grundmauern sind erhalten geblieben und lassen, wie auf einem Bauplan erkennen, wo die Patios lagen, die Küche, die Zimmer und die Salons. Im ganzen vorderen Bereich, zur Straße, lebte die Familie: der General mit seinen aufeinanderfolgenden Ehefrauen – er wurde dreimal Witwer und heiratete viermal – und seinen vielen Kindern.
    Im hinteren Teil wohnte, um den letzten Patio herum, das Personal: Burschen, Dienstmädchen, Köchinnen, Reitknechte. Der General, ein großer Patriarch und ein nicht minder großer Zuchtbulle, hinterließ Nachwuchs, wo er nur hinkam. Er machte vor keiner Frau halt, im Guten wie im Bösen. Nachts stahl er sich heimlich und hastig in den Hinterhof, um die Jungen flachzulegen, an die Alten Hand anzulegen und einer schwarzen Dienstmagd mit Namen Aleja, die ihm lebenslang die Treue hielt, beizuschlafen.
    Seine Ehefrauen blieben nicht, drei von ihnen starben im Kindbett. Aleja dagegen schon. Sie hielt durch und bekam ein Baby nach dem anderen. Einige ihrer Kinder erkannte der General an und gab ihnen seinen Familiennamen, das war seine uneheliche mulattische Nachkommenschaft. Zu ihnen gehörte Victoriano Álvarez, der Vater des Soldaten Victoriano von Clipperton.
    General Álvarez wurde am 15. Juli 1857 zum Gouverneur ernannt, und als er fünf Wochen später seine Siesta hielt, rotteten sich seine politischen Feinde auf dem Platz zusammen und forderten in Sprechchören: »Religion und Rechte.« Der General wachte schlecht gelaunt auf und geriet in Wut, als ihm die Nachricht überbracht wurde. Er legte seinen Pistolengurt um, stieg aufs Pferd und stürmte, zornentbrannt und ohne auf seine Anhänger zu warten, zum Platz hinaus, um den Aufstand ganz allein niederzuschlagen. Kaum erschien er an der Straßenecke, da empfingen sie ihn schon bleiern und trafen ihn mit einem Schuss direkt ins Herz. Die Familie wandte sich an die Kirche und bat, wie bei einem gewaltsam, ohne geistlichen Beistand

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