Die Insel der Verlorenen - Roman
umgekommenen Christenmenschen üblich, post mortem um dessen Absolution sowie darum, den Verstorbenen in geweihter Erde bestatten zu dürfen. Der amtierende Priester schlug es ihnen aus, mit der Begründung, man habe den General – einen Liberalen mit roten Knochen – exkommuniziert, nachdem er einen Eid auf die Bundesverfassung abgelegt hatte. Letzten Endes gab Hochwürden dann doch nach und erhielt im Tausch dafür zweitausend Pesos sowie die Erlaubnis, den Leichnam so lange mit der Rute zu traktieren, bis er ihm alle Dämonen ausgetrieben hatte. Nach der tödlichen Kugel hatte General Álvarez also auch noch die Peitsche zu ertragen, ehe er sich in seinem Grab zur Ruhe legen durfte.
Seine vierte Frau, Panchita Córdoba, war jung verwitwet und heiratete wieder, diesmal Filomeno Bravo. Der schöne Filomeno, dem man nachsagte, der hübscheste Mexikaner zu sein, setzte zu Hause als Macho und Übervater die Tradition des Verstorbenen fort. Seiner blauen Augen und seines goldenen Barts wegen wurde er mit keinem Geringeren verglichen als mit Kaiser Maximilian, was ihm als Freibrief diente, sich bis in Kaiserin Charlottes Bett vorzuarbeiten. Von dort abwärts gab es keine Frau, die nicht sein geworden wäre. Er war raffiniert und begütert genug, um jede in sich verliebt zu machen und zu betrügen. Eines Tages entführte er eine unbekannte Schönheit in einem roten Kleid auf der Kruppe seines Pferdes und liebte sie auf offenem Feld. Es kamen Leute vorüber, die ihn sahen. Bevor seiner Frau Panchita die Geschichte zu Ohren kam, eilte Filomeno nach Hause, hieß sie ein rotes Kleid anziehen, führte sie auf der Kruppe seines Pferdes aus dem Dorf hinaus und liebte sie auf offenem Feld. Nun würde sie sich, wenn man ihr die Sache zutrug, arglos und glücklich in der Gewissheit wiegen: Die schöne Unbekannte in dem roten Kleid, das war ich.
EinmalkamdergroßeBenito – derIndio – währendseinerPräsidentschaftnachColimaundwäreumeinHaarvoneinemTruppunterdemKommandodeshübschenFilomeno – demBlonden – erschossenworden.DieserschenkteihmdasLebenundBenitoJuárezüberreichteihmdankbareineKarte,worauferschrieb:»LebengegenLeben.«Dannkamesdazu,dassFilomenoirgendwanninZacatecasfestgenommenwurde.Alssieihnerschießenwollten,zückteerdieKarte,»LebengegenLeben«,undsiemusstenihnlaufenlassen.JahrespäterkameraufdiegleicheWeiseumwieGeneralÁlvarez,unddieLeutevonColimaschriebenihmaufdenGrabstein:»DassFilomenoinFriedenruht,tutdemRespektvordemfremdenHinterngut.«
Ein Enkel von General Manuel Álvarez, Miguel Álvarez García, schaffte es ebenfalls zum Gouverneur, und eine Urenkelin zur Gouverneurin, Griselda Álvarez Ponce de León. Über mehrere Generationen blieben den Álvarez Reichtum und Pomp erhalten. Zumindest den weißen ehelichen Álvarez, denen aus dem Vorderhaus.
Victoriano, den Mulatten und Enkel der schwarzen Aleja und des Generals, traf das Schicksal derer, die im Hinterhof aufwuchsen. Das Geschwätz der Dienstboten weihte ihn in seine Familiengeschichte ein. Und er wurde der unsichtbare, stumme Zeuge der ökonomischen Erfolge, politischen Ränke und militärischen Abenteuer seines Großvaters und seiner weißen Onkel, Vettern und Brüder. Hinterm Zaun spionierte er ihre erotischen Eroberungen und Übergriffe aus. Bis er es eines Tages satt hatte, die Frauen, die sie besaßen, nur mit den Augen zu vernaschen. Bis er eines Tages die Taten, in denen sie die Helden waren, leid war, und genug davon hatte, das Leben, das sie führten, zu bewundern und zu beneiden. Er wollte sein eigenes Leben haben, meldete sich als Soldat beim Militär und landete auf der Insel Clipperton.
Clipperton
– 1915 –
Arnauds und Cardonas Schleppkahn glitt einem grünlichen Nebel entgegen und wurde unscharf wie eine Erinnerung. Vom Strand folgten ihm Frauen und Kinder mit den Augen. Sie sahen, wie er sich mühsam zum Riff vorkämpfte, wie er auf- und abtauchte und schwerelos auf einem unberechenbaren, trügerischen Meer schwankte. Die Anstrengung der beiden rudernden Männer brachte den Kahn ein Stück voran, aber die Wellen drängten ihn wieder zurück. Er entfernte sich, er wurde kleiner, er wurde dunkel, er kam wieder näher, wurde heller, verlor sich aufs Neue. Kraft ihrer Blicke hielten die Frauen ihn vom Strand aus über Wasser, retteten ihn mit ihren Gebeten an Teresa Urrea, die Heilige von Cábora, lockten ihn kraft ihrer Gedanken zurück zum Ufer. Als seine Umrisse nur noch verschwommen zu sehen waren, gingen sie bis zu den Knien
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