Die Insel der Verlorenen - Roman
Korallensplittern. Manchmal trafen sie aufeinander:
»Habt ihr sie gesehen?«
»Nichts.«
»Sucht weiter. Sucht, bis ihr sie findet.«
Sie begegneten Altagracia und den Kindern. Ramoncito lief hinter seiner Mutter her und klammerte sich an ihre Beine.
»Jetzt nicht, Kind.«
Ramoncito weinte, er wollte nicht loslassen.
»Alta, nimm mir dieses Kind ab. Gib ihnen was zu essen, sie haben bestimmt Hunger.«
»Was soll ich ihnen geben?«
»Gib ihnen was du findest.«
»Es ist kein Fisch da.«
»Gib ihnen Eier. Gib ihnen Wasser, sie haben bestimmt Durst. Und zieh sie an, sie frieren.«
»Alles, was sie zum Anziehen haben, ist nass.«
»Dann mach Feuer. Lass mich los, Ramón, und hilf Alta Feuer machen.«
»Und Papa? Ich weiß, wo Papa ist.«
»Wo denn?«
»Im Haus. Er ist schon da.«
»Woher weißt du das?«
»Einfach so.«
Alicia lief nach Hause. Der Junge lief hinter ihr her und Altagracia lief hinter dem Jungen her. Als sie ankamen, war keine Menschenseele da.
»Hatte die Señora nicht eine Fernbrille?«, fragte Altagracia.
»Die hat Ramón den Holländern mitgegeben.«
»Wenn die es bis Acapulco geschafft haben, dann schafft der Señor es ja vielleicht auch.«
»In diesem Bretterkahn? Rede keinen Unsinn. Nimm mir den Jungen ab, Alta. Spiel mit ihm, bring ihn zum Schlafen, gib ihm zu essen, tu irgendwas, aber halte ihn mir vom Hals, ich muss Ramón finden.«
Alicia und Tirsa liefen zum großen Südfelsen. Als er sah, dass sich seine Mutter entfernte, schrie Ramoncito und war untröstlich, schluchzte und schluckte halb erstickt, während die anderen Kinder Blinde Kuh spielten. Die beiden Frauen stiegen bis zum Leuchtturm hinauf und hielten in alle Richtungen Ausschau, bis ihnen die Augen schmerzten. Der Nebel war dichter geworden und bildete jetzt einen undurchdringlichen, nur hier und da von scharfen Haifischflossen zerschnittenen Schleier. Bei Einbruch der Dunkelheit hockten die beiden Frauen immer noch oben in einem Wirbel eisiger Böen, und als der Morgen aufzog, saßen sie auch noch da, die Augen vom Horizont entflammt. Die Sonne ging kraftvoll auf und vertrieb den gespenstischen Nebel, das Meer erwachte gelb, rosa und orange, ohne das kleinste Pünktchen auf seiner glatten Oberfläche.
Die folgenden Tage verliefen alle gleich. Alicia umwickelte sich die wehen Füße mit alten Lumpen, um sie gegen die Korallen zu schützen, und irrte in einer mit dem Tod ringenden, sinnlosen Erregung über die Strände, ohne ein einziges Mal innezuhalten. Von Zeit zu Zeit sagte sie im Vorbeigehen:
»Alta, die Kinder haben Hunger. Gib ihnen zu essen.«
»Was soll ich ihnen geben, Señora?«
»Gib ihnen irgendwas.«
Oder:
»Alta, es ist schon spät. Leg die Kinder schlafen.«
»Sie wollen nicht, Señora.«
»Dann lass sie noch ein Weilchen.«
Sie selbst legte sich zu keiner Stunde hin. Sie irrte über die Insel wie eine Seele im Fegefeuer, den Blick starr aufs Meer gerichtet. Ramoncito trottete hinterher, quengelnd und rotzverschmiert.
»Mama, ich weiß, wo Papa ist.«
»Erzähl keine Geschichten, Kind.«
Am dritten Tag setzte sich Alicia mit dicken Blasen an den Füßen in eine Ecke ihrer Küche und war nicht mehr imstande, sich zu rühren. Stumm, abwesend, widerstandslos blieb sie da sitzen, bis Rosalía kam und verkündete, sie habe das Wrack des Kahns gefunden, im Norden der Insel stecke es im Sand. Alicia vergaß ihre Füße und machte sich in Windeseile auf den Weg, immer mit dem Jungen im Schlepptau. Der Kahn war da, aber die Männer fehlten. Keine Spur von ihnen.
Alicia Arnaud legte sich flach in den Sand, als hätte sie beschlossen, für alle Ewigkeit dort zu verweilen. Mehr als die Trauer einer Witwe, empfand sie die Missachtung der verlassenen Braut. Sie quälte sich in schmerzlichen Wutausbrüchen, sie zermarterte sich in Eifersuchtsanfällen. Ihr Leid war voller Groll, wie bei einer Frau, die von ihrem Geliebten für eine andere sitzengelassen wird, wie bei einem Mann, der von seinen Freunden verraten wird, und es war ein eiferndes Leid, das nicht zur Ruhe kam, wie bei einer Frau, die den Geliebten zur Rückkehr bewegen will, wie bei einem Mann, der eine Entschuldigung fordert. Einfach so zu gehen und sie alleinzulassen: Ramón hatte sie verraten. Wenn er zurückkam, dann würde sie es ihm ins Gesicht sagen: Wie konnte er nur auf die Idee kommen, auf diese völlig absurde, völlig sinnlose Art zu sterben und sie hier alleinzulassen? Wenn er zurückkam, dann würde sie zu ihm sagen: Hast
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