Die Insel der Verlorenen - Roman
du denn gar nicht an deine Kinder gedacht, als du dich in solche Gefahr begeben hast? Wenn er zurückkam … wenn er zurückkäm, würde sie ihm vergeben. Sie würde ihn umarmen, ihn lieben, ihm die Füße mit den Haaren trocken. Wenn er zurückkäm … Vielleicht kam er ja zurück, bestimmt würde er zurückkommen: Alicia hob den Kopf und blickte aufs Meer hinaus.
Die Welt um sie herum existierte nicht mehr. Sie sah nichts, sie hörte nichts, sie verstand nichts, sie rührte das Essen nicht an, das die anderen ihr hinstellten. Sie nahm Ramoncito nicht wahr, der ihr auf den Rücken kletterte, sie an den Armen zog, um sie herumflatterte und keine Ruhe gab, sondern unaufhörlich plapperte.
»Mama, schau hier, die Schnecke. Mama, es tut mir hier weh. Mama? Soll ich dir eine Geschichte erzählen? Mama, vorhin habe ich Papa gesehen. Soll ich dir aus dieser Schnecke eine Kette basteln?«
Alicia sagte kein Wort, als wäre sie ganz weit weg und wollte nicht zurückkommen. Das Kind fing eine Landkrabbe und begann damit zu spielen. Das Tier hatte wilde, vorstehende kleine Augen und einen roten Panzer mit weißen Punkten. Es öffnete und schloss die Zangen, hatte Haare auf den Beinen und Fühler auf dem Kopf. Die Krabbe wollte fliehen, lief rückwärts, seitwärts. Mit einem Stück Treibholz blockierte Ramoncito ihr den Weg. Mit einem Stöckchen spießte er sie auf, mit einem Fuß reizte er sie.
»Mama? Schau mal hier, ein Meeresungeheuer, Mama.«
Das Tier litt, wurde wütend, wurde rasend, war in seiner Verzweiflung faszinierend. Das Kind ging ganz dicht mit dem Gesicht heran, um es genau zu beobachten.
Der Schrei und das blutverschmierte Gesichtchen rissen Alicia aus dem bodenlosen Loch ihrer Einsamkeit. Die Landkrabbe hatte Ramón in die Lippe gebissen. Alicia nahm den Jungen auf den Arm und eilte nach Hause.
»Siehst du, Mama, das Meeresungeheuer war böse.«
Sie drückte ihn, küsste ihm das Haar, die Augen, bat ihn um Verzeihung.
»Entschuldige, mein Sohn, entschuldige, entschuldige, es war meine Schuld, es war meine Schuld, meine Schuld, meine ureigene Schuld … «
Zu Hause angekommen, wusch Alicia die Wunde aus, holte das Nähkästchen aus der Truhe mit ihren liebsten Besitztümern und fädelte in eine Nadel das letzte Stück Faden, das sie besaß. Eine feste, lange blaue Faser.
»Wo steckt Tirsa?«, fragte sie Altagracia.
»Sie ist weit weg, Señora, soll ich sie holen gehen?«
»Dafür ist keine Zeit. Alta, halt das Kind fest.«
Alicia holte tief Luft, bezwang das Zittern in ihren Händen, schöpfte Mut, wo keiner mehr war, und nähte ihm den Riss, Stich für Stich mit der Nadel und dem blauen Faden zusammen. Als sie damit fertig war, legte sie den Jungen schlafen und streichelte ihm so lange den Kopf, bis er eingeschlafen war. Dann rief sie die anderen Frauen. Sie kamen alle fünf: Tirsa, Altagracia, Benita Pérez, die Witwe des Soldaten Arnulfo Pérez, Francisca, die frühere Braut von Pedrito Carvajal, und Rosalía, die Frau von jedem und keinem. Alicia musterte sie – sie waren struppig, abgemagert, ihre Kleider zerfetzt – und dachte, dass sie schlagartig zehn Jahre gealtert waren. »So sehe ich vermutlich auch aus«, dachte sie. »Wie eine Hexe. Wenn Ramón zurückkäme, würde ihn auf der Stelle der Schlag treffen.« Sie bat sie, Platz zu nehmen und sprach mit ihnen.
»Unsere Männer sind alle tot«, begann sie. »Aber wir sind noch am Leben. Die Kinder sind auch am Leben, und die müssen wir ernähren. Das wird nicht einfach sein. Wir müssen hart arbeiten, deshalb ist jetzt Schluss mit der Trauer. Wir haben genug um unsere Männer geweint, jetzt müssen wir uns um die Kinder kümmern.«
Bei dieser Versammlung, der ersten, die Alicia einberief, wurde auch das Tragen von Röcken verboten.
»Wir können keine Lappen gebrauchen, die uns im Weg sind«, sagte sie. »Denn wir müssen fischen lernen.«
Sie verteilte die Hosen aus der Hinterlassenschaft der Männer. Diese schnitten sie über dem Knie ab und befestigten sie in der Taille mit Hanfstricken. Sie lebten inzwischen seit sieben Jahren mitten im Meer und konnten immer noch nicht fischen: Die Nahrungsbeschaffung war Aufgabe der Männer gewesen. Von diesem Tag an begannen sie bei Sonnenaufgang mit der Arbeit im Meer. Sie stellten Fallen zwischen den Korallen auf, mühten sich mit Netzen, Ruten und Angelhaken ab, zielten mit angespitzten Stöcken auf alles, was sich unter der Wasseroberfläche regte. Stunden später warfen sie sich mit einem
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