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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Fohl
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Gott, der ihre Männer und Söhne wieder lebendig machte. Nur eine Gedächtnisrede in der Kirche und ein verwaister Leichenstein für jeden. Oder ein Holzkreuz. Oder ein Walfischknochen für die Armen. Das war alles, was Gott zu bieten hatte.
     
    Gestrandet und erstarrt in Batavia
     
    Verunglückt am Kap der Guten Hoffnung
     
    Beim Schiffbruch auf Skagen samt Bruder erstarrt
     
    Aus der Takelage gestürzt und in den Wellen ver-
sunken
     
    Durch eine Sturzsee über Bord gespült, in Havanna
gestorben
     
    oder ähnliche Inschriften werden auf den Grabmälern zu lesen sein.
    Aiken Gerrits wälzte sich am Boden. Sie heulte auf wie ein schwer verletzter Seehund. Aiken hatte zehn Kinder. Drei waren im frühen Kindesalter gestorben, eine ihrer Töchter mit fünfzehn Jahren. Jetzt hatte ihr das Meer den Mann und drei Söhne genommen.
    Inselfrauen lebten vom Tod umgeben. Waren sie Mädchen, starben ihre Brüder und Väter auf See oder ihre Mütter im Kindbett. Wuchsen sie zu Frauen heran, verloren sie ihre Männer und Kinder. Oder sich selbst.
    Keike umfasste Stines Hand. Stine drückte so stark, dass es schmerzte. Ihr Mann, der Tükke, war weder unter den Lebendigen noch unter den Toten. Stine weinte nicht. Ihre Augen waren starr, ihr schmaler, strenger Mund von Bitterkeit gezeichnet. Sieben Jahre hatte sie auf Tükke gewartet. Ihre Tränen waren versiegt. Sie wickelte ihr Herz in ein Tuch und vergrub es in den Dünen. Dort würde es für Tükke weiterschlagen, solange sie lebte.
    Sie gingen schweigend nach Hause. Die trüben Dünste umschlossen sie. Keike musste an Harck denken. In dem Jahr, als Harck nicht mehr wiederkam, hatten die Männer begonnen, das Schiff für die Fahrt klarzumachen. Sie prüften das Takelwerk, reparierten die Ösen und Rollen, schlugen schließlich die Segel unter. Sie verstauten den Proviant, Butter, Fleisch und Schinkentonnen, Wasser-, Bier-und Branntweinfässer und vieles mehr. Alles war zur Abfahrt bereit, aber der Winter wollte nicht weichen. Erst Ende März liefen sie aus. Sie hätte einen Monat Zeit gehabt, Harck von dem Totenvogel zu erzählen. Sie hatte es ihm verschwiegen.
    »Es passierte am ersten Mai«, erzählte Niels, sein Kamerad, als er ihr Harcks Messer und den Seesack brachte. »Wir sichteten am Morgen junge Robben auf dem Eis und machten Fall mit allen Schaluppen, die wir hatten. Kurz darauf briste der Wind stark auf und es begann in dichten Flocken zu schneien. Wir konnten gerade noch an Bord gelangen, bevor der Sturm losbrach, ein Sturm, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Wir trieben immer weiter in die Bucht hinein, direkt auf das feste Eis zu. Unsere Reling und Schanzkleidung brach entzwei. In kurzer Zeit hatten wir so viel Wasser im Schiff, dass das Wasser in die Kojen hineinschlug. Wir mussten die Segel mindern. Es war aber unmöglich, auf die Rahe hinauszukommen. Ich sagte zu Harck: ›Komm, wir müssen es wagen, es geht um Leben und Tod.‹ Ich krabbelte zur Want hinauf und ließ mich beim Focktopwant heruntergleiten. Gleich darauf kam Harck mir nach. Um sich besser halten zu können, schlug er sein Bein hinten um mich herum und den Fuß über die Fockbrass. Ich brüllte ihm noch zu, es nicht zu tun, doch es war schon zu spät. Ein riesiger Brecher kam angerollt, das Schiff schlug fast ganz auf die Seite. Harck konnte sich nicht mehr halten. Ich packte ihn mit den Zähnen an seinem Jackenkragen. Dann fiel er vom Luv aufs Leeanker herunter und ging über Bord. An Rettung war nicht zu denken, Keike.« Er räusperte sich. »Ich wünschte, ich hätte ihn rechtzeitig warnen können. Hier ist seine letzte Heuer. Möge der Herrgott dich und die Kinder schützen.«
     
    Keike fröstelte. Sie schlug ihr Tuch fester um die Schultern.
    Sie erreichten Stines Haus.
    »Ich werde Tükke endlich für tot erklären lassen«, sagte Stines Mutter. Stine ging wortlos in ihre Kammer.
    »Für Stine wird er niemals tot sein«, flüsterte Keike, »auch wenn sie das Regenkleid trägt.«
    Stine kam zurück. »Hier, nimm du es, Keike. Meinetwegen verbrenn es im Kamin.«
    »Du meinst, ich soll dein Schreibebuch …«
    »Ich habe es damals nach Tükkes Abfahrt begonnen. Ich will es nicht mehr.«
    Keike klappte den Einband auf.
10.Dezember
    Mich friert. Ich sitze allein in der Küche und bin trüber Stimmung. Ich habe noch immer keine Nachricht von meinem lieben Mann. Ewig treu, das ist mein fester Schwur, denn mein Herz ist ewig sein, auch nicht die allerkleinste Spur eines anderen fällt

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