Die Insel der Witwen
fixe Wahn, worin der Kranke über andere Gegenstände, die kein Objekt seines Wahnsinns sind, unvernünftig urteilt.
Wenngleich der Kranke über andere Gegenstände ganz richtig urteilt und selbst über seinen Wahn anscheinend vernünftig spricht, so bemächtigt sich derselbe seiner im ferneren Verlauf des Übels so sehr, dass er nur für ihn Sinn hat. Unaufhörlich verfolgt ihn derselbe wie ein Gespenst. Vergebens versucht der Kranke, sich seiner als eines widrigen Denkens zu erwehren. Der Wahn quält ihn mehr, als ihn die Wirklichkeit gequält haben würde. Dieser wird am Ende der herrschende Gedanke, das obere Prinzip seines Handelns, alle anderen Rücksichten vergisst der Kranke, dessen ganze Tätigkeit sich bloß auf seinen Wahn einschränkt, er wird niedergeschlagen, verliert den Schlaf und die Lust zu anderen Arbeiten, wird misstrauend, wohl gar wütend bei Hindernissen und Widersprüchen. Er handelt seinem Wahn gemäß mit Konsequenz und Überlegung, wenngleich unter falschen Voraussetzungen und nach Gründen, die von einem Irrtum ausgehen. Lebensüberdruss und demgemäße Handlungen sind die gewöhnlichen Folgen dieser Gemütskrankheit.
Der Arrestant vollzog die Tat nach einer schlaflosen Nacht in einem gereizten Zustand seines Organismus, zwar mit Bewusstsein, aber ohne Besonnenheit, zwar mit Überlegung, doch mit der Überlegung eines krankhaften Vorstellungsvermögens. Unter obiger Voraussetzung ist es für höchstwahrscheinlich zu halten, dass der Arrestant vor und während seiner Tat an einer Melancholie gelitten hat und durch dieselbe in der Freiheit seines Vermögens beschränkt gewesen ist.
Unvermögend, sich selbst zu vernichten, aufgeschreckt durch eine unwillkürliche Erinnerung an die Vorsehung mit dem Bewusstsein der Tat, die ihn von dem, was ihm am nächsten war, getrennt hatte, bemächtigte sich seiner eine neue Leidenschaft, die Reue über die verübte Tat und da die Seele zweier starker Aktionen auf einmal nicht fähig ist, geriet der Arrestant in den Zustand geistiger Umnachtung, in dem er sich jetzt befindet.
Gez. Dr. Wilhelm Gutmann, untersuchender Arzt
4
Die Ringelgänse waren zurückgekehrt . Tausende von schwarzen Punkten saßen in den Seegrasmatten im Watt. Rronk Rronk, Rronk Rronk , tönte es von überall. Die Vögel waren hungrig, ihre Flügel, die sie bis auf die Insel trugen, lahm. Sie fraßen und ruhten, um neue Kräfte zu sammeln. Die auflaufende Flut scheuchte die Gänse auf. In dichten, schwarzen Wolken schwangen sie sich in die Lüfte, flogen zu den Salzwiesen, schwenkten hierhin, dahin, zogen Kreise und regneten als dunkle Tropfen auf die Wiesen nieder. Dann verstummte das Geschnatter. Die Gänse ruhten sich aus, auf einem Bein stehend, den Kopf tief im Gefieder verborgen. Schwarze Köpfe, die sich vor der Welt versteckten.
Mit den Ringelgänsen kehrten auch die Männer zurück. Alle Taldsumer waren am Kai versammelt. Auch Keike, Stine und Medje warteten mit den Kindern am Anleger. Die Kinder klammerten sich an die Röcke, ihre Köpfe in den Stoff gedrückt. Die Insel war in Nebel gehüllt. Feuchtkalte Dünste umwoben sie. Die Nebelwolken waberten Angst und Hoffnung. Sie hüllten alle in das trübe Kleid der Ungewissheit. Es war ganz still am Pier. Alle standen regungslos und schwiegen.
Keike und Medje hielten Stine die Hände. Sie fühlten sich kalt und klamm an.
»Wenn er heute nicht wiederkommt«, flüsterte Stine, »werde ich das Regenkleid tragen.«
Keike drückte ihre Hand.
Die Boote waren noch nicht zu sehen, als sie die ersten Stimmen hörten. Sie klangen wie Geisterstimmen. Ein Ho! erschallte. Ruder nach Backbord! , rief es aus dem Dunst heraus. Masten knarrten. Segel rauschten hinab. Plätschern. Glucksen. Getrappel auf Schiffsplanken. Das erste Boot durchbrach den dichten Hoffnungsschleier. Die anderen Boote folgten, Ankerketten rasselten. Die Männer verließen die Ewer. Erste Freudenschreie ertönten. Umarmungen folgten. Tränen der Freude und Erleichterung überfluteten die Mole. Meeresglück.
Alle Männer befanden sich nun an Land. Viele Frauen warteten immer noch am Pier, verloren in den Trübungen, umringt von ihren Küken. Der erste Klageschrei ertönte, mischte sich in den Freudentaumel der Frauen, die Ehefrauen geblieben waren. Immer lauter und kläglicher wurde der Trauergesang, in den sich das Weinen der Kinder vermengte und die Freudenmusik verdrängte. Einige Frauen sanken zu Boden. Sie flehten zu Gott. Aber da war kein
Weitere Kostenlose Bücher