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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Fohl
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geschlossen bleiben. Er genoss die stickige Wärme, die ihm niemals stickig vorkam. »Auf den Schiffen ist es immer kalt und nass«, sagte er. »Es zieht durch alle Ritzen.«
    Bis auf den Schafsmist im Kamin glühte nichts in ihrem Haus. Manche Nacht, wenn sie nicht schlafen konnte, legte Keike ihren Schal um, floh in die schwarze Nacht hinaus und träumte unterm Sternenhimmel von Zärtlichkeiten, die sie niemals empfangen hatte. Sie sehnte sich nach einem Schiff, das am Horizont auftauchte und sie mitnahm in eine neue, glücklichere Welt. Immer mehr Friesen wanderten nach Amerika aus. Sie selbst war noch nicht einmal von der Insel herunter gekommen.
    Es dämmerte bereits. Keike schmerzten die Hände und der Rücken. Und die Augen brannten. Die Kälte und die Müdigkeit zogen ihr in die Glieder. Die Enten lagen gestapelt auf dem Tisch. Ihre Köpfe hingen an der Tischkante herunter. Sie hockte inmitten toter, kahler Enten. Ihre Federn hatte sie in Säcke gestopft.
    Sie saß auf dem Schemel und starrte auf die schlaffen, fahlen Vogelleichen. Der schale Geruch der Geflügelhaut betäubte sie. In jedem Winkel der Tenne stank es nach nackten Enten. Auch ihre Kleidung, ihre Hände, ihre Haut. Plötzlich sah sie sich selbst dort liegen. Nackt, bleich und leblos. Eine tote, gerupfte Keike. Abgebrüht, ausgenommen, ausgeblutet.
    Ihr Hocker fiel um. Keike riss die Tür auf, stürzte hinaus. Sie raffte den Rock, rannte bis zum Meeresufer, streifte ihre Schuhe ab, stapfte ins Wattenmeer hinein, spürte kühlen Schlamm und spitze Muschelschalen unter ihren Füßen. Und frischen Wind. Mit Wattenduft. Gierig sog sie das würzige Aroma ein. Der Boden gab nach. Sie versank bis zu den Knöcheln im Schlick. Sie stapfte voran, um zu spüren, dass sie lebte. Muschelschalen, Schlamm. Der Wind, der sie umarmte. Weit draußen blieb sie stehen, blickte über den grauen Meeresboden, der von dunkelgrünen Seegrasteppichen durchzogen war, lauschte dem leisen Knistern der Schlickkrebse. Tränen flossen ihr die Wange hinab, verfingen sich in ihrem Mundwinkel. Sie weinte, so lange, bis die Tränen von selbst versiegten. Zaghaft begann sie zu singen, zunächst mit gebrochener, verweinter Stimme, schließlich immer klarer, beherzter. Sie sang, bis ihr Atem strömte wie die Flut. Plötzlich war sie nicht mehr traurig. Plötzlich begann das Watt hell zu glänzen. Sie sah, wie sich Himmel und Wolken in den Wasserpfützen spiegelten. Und wie das grüne Seegras Hoffnung schimmerte.
     
    H
     
    Name: Andreas Hartmann
     
    Alter: 42 Jahre
     
    Körperlicher Status: 175 groß, kräftige Muskulatur, schlank, Haut ziemlich blass
     
    Schädel: fronto occipitalumfang 553/2cm, druck-und klopfempfindlic h
     
    Gesichtsform: rundlich
     
    Haare: grau
     
    Augen: grün, stumpf
     
    Augenbrauen: grau, schmal
     
    Nase: gerade, wohlgeformt
     
    Mund: volle Lippen
     
    Stirn: hoch gewölbt, Spuren langwierigen Kummers
     
    Kinn: gerundet, aber markant
     
    Zähne: auffallend gesund, hinterer Backenzahn links fehlt
     
    Zunge: belegt
     
    Herz: erhöhter Puls
     
    Leib: fest, druckempfindlich
     
    In unserer Unterredung mit Andreas Hartmann, die eine Stunde dauerte, erzählte er uns von seiner schrecklichen Tat. Fast jede Nacht habe er schlaflos und in Angstschweiß zugebracht. Auch die Nacht vor dem Verbrechen habe er in fürchterlicher Angst wach gelegen und sich bis zum hellen Morgen hin und her geworfen. Dann habe ihn ein Schauder überlaufen. Die Tat kam ihm als letzte Zuflucht vor. Er habe in einem Wahn gestanden. Zitat: Ich war nicht Herr meiner Sinne. Meine Grundsätze, meine Meinungen und Neigungen, alles widerspricht meiner Gräueltat. Ich glaubte an Gott. Gott, mein Gott erbarme dich meiner.
     
    Nach dem Verbrechen habe er nur noch den Gedanken gehabt, seinem eigenen Leben ein Ende zu machen.
     
    All diese Umstände erzählte er ohne die geringsten Zeichen einer Geisteskrankheit, sodass wir ihn zum Zeitpunkt des Verhörs als seines Verstandes vollkommen mächtig halten müssen. Was dagegen die psychologische Entwicklung seiner Tat und die Darstellung seines Gemütszustandes vor, und während derselben betrifft, so sind wir zu der Beurteilung gekommen, dass es höchstwahrscheinlich ist, dass besagter Hartmann zu der Zeit seiner Tat an Geisteszerrüttung gelitten hat. Zwar gehört diese Art der Geisteszerrüttung, wenigstens dem Grade nach, nicht zu den gewöhnlichen. Es war kein Blödsinn, also keine abnorme Schwäche des Verstandes, sondern vielmehr der

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