Die Insel der Witwen
die Bohlen verlegt haben. In der nächsten Woche dann der Aushub der Baugrube. Sie musste ausgeschachtet sein, bevor die Granitblöcke für das Fundament eintrafen.
Sonntag. Keine Werkzeuggeräusche. Nur vereinzelt das hämische Kreischen einiger Lachmöwen am Himmel. Andreas Hartmann trug seinen guten Anzug. Er sammelte einen Flusen vom Jackenärmel, klopfte auf der linken Schulterpartie ein paar Schuppen ab. Dann schlüpfte er in seine polierten Stiefel, zog seine wollene Jacke über, klemmte seine Pfeife in den rechten Mundwinkel und stolzierte Richtung Kirche. Er war guter Dinge. Der Bohlenweg lag. Und Pastor Jensen hatte ihn zusammen mit Kapitän Lorenzen zum Essen eingeladen. Bei dem Gedanken an einen deftigen Sonntagsbraten lief ihm das Wasser im Mund zusammen.
Andreas Hartmann genoss den Spaziergang. Die Arbeiter waren schon vorausgegangen. Da die meisten Männer auf See waren, gab es auf den Kirchenbänken genügend Platz für alle.
Die Inselkirche hatte zwei Eingänge. Andreas Hartmann betrat sie durch die Südtür, die nur die Männer benutzen durften. Er schnupperte. In Kirchen roch es immer nach einer besonderen Art abgestandener Luft, einer Mischung aus Feuchtigkeit, Kalkfarbe und Holz, aus Lehm und menschlichen Ausdünstungen. Er hatte diesen Geruch nie leiden können. Er vereinigte das Aroma von Trauer, Tod und Seelennot, ein modriger, schwerer Duft, der ihn stets bedrückte. Warum konnte er niemals das Glück riechen? Schließlich fanden auch Hochzeiten und Taufen in der Kirche statt. Bei seiner Hochzeit, dachte er, hatte er auch kein Glück gerochen.
Er stieg die Treppe zur Empore hinauf, betrachtete die großen Kronleuchter an der Decke. Die Kerzen brannten nicht. Die großen Fenster an der Nord-und Südseite spendeten genügend Licht. Er nahm seinen Platz ein, faltete die Hände, betete, setzte sich. Er spähte zu den Frauen hinunter. Die jüngeren Inselfrauen waren sehr schön. Sie hatten rosige, frische Gesichter mit munteren, lebhaften Augen. Ihr Körperbau war kräftig. Es gefiel ihm, dass sie muskulös waren. Almut war körperlich sehr zart und zerbrechlich. Ihre Stärke lag in ihrer Standhaftigkeit und in ihrem unbeugsamen Willen. Andreas Hartmann seufzte. Ein weiteres Mal lugte er zu den Inselschönheiten.
Die älteren Frauen hatten ihre Gesichtsfarbe ganz und gar verloren. Ihre Haut war wettergegerbt, von Falten und Runzeln durchzogen. Trübe und stumpf starrten sie vor sich hin. Wie alte Schildkröten. Sein Blick fiel auf die Witwenbänke. Dort sah er keine Gesichter, nur schwarzes Tuch. Die Köpfe der Witwen waren gesenkt. Ihre Hauben formten ein schwarzes Viereck.
Der Küster sprach das Eingangsgebet. Dann begann die Gemeinde zu singen.
Wenn wir in Wassersnöten sein,
so rufen wir zu dir allein,
o treuer Gott und bitten dich:
Hilf uns doch jetzo gnädiglich.
Drum steur und wehr, o Vater, ab,
dass nicht das Meer werd unser Grab;
verhüte, dass durch deinen Grimm
wir nicht im Wasser kommen um.
Sieh Herr, nicht unsre Sünden an
und was der Mensch versehen kann,
durch Jesum lass uns gnädig nach
die Sünd und alles Ungemach.
Jensens sägend-nasale Stimme dröhnte durch den Kirchenraum.
»Gott, der Herr, ist uns gnädig. Er rettet uns vor des Wassers und des Unglücks schrecklicher Gewalt. Gott ist uns ein Leuchtturm. Sein Licht ist noch dann zu sehen, wenn andere Lichter nicht mehr zu erkennen sind. Es leuchtet uns in stürmischen Zeiten, wenn unser Lebensschiff in den Wellen schwankt und droht, unterzugehen. Gott zeigt uns die richtige Richtung, er bringt uns wieder auf den richtigen Kurs. Sein Licht rettet unser Lebensschiff aus der Not und führt uns in den sicheren Hafen. Unser Inselleuchtturm ist ein Wahrzeichen Gottes.«
Andreas Hartmann war dem Pastor dankbar. Er trat für seinen Leuchtturm ein. Sein Herz konnte sich dennoch nicht für ihn erwärmen. Die Stimme dieses Mannes, seine ganze Erscheinung, löste in ihm ein Frösteln aus. Jensen war vielleicht fünfzig Jahre alt. Er war ein kleiner, dicklicher Mann. Sein kahler Kopf glich einer Birne. Zwischen den Augenbrauen zog sich eine tiefe Ärgerfalte bis zum Nasenbein hin. Blaue stechende Augen stierten vorwurfsvoll in den Kirchenraum. Seine dünnen, spitz nach vorn gezogenen Lippen erinnerten an einen Vogelschnabel.
»Es ist Gottes Wille, dass der Leuchtturm gebaut wird. Unser Vater im Himmel schickt uns das Licht des Lebens und der Erkenntnis! Er lässt sein Licht leuchten, wacht die Nacht
Weitere Kostenlose Bücher