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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Fohl
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Morgen bei Ihnen gewesen.«
    Nissen antwortete nicht. Er hielt das Gespräch für beendet.
    »Nun, was ist?«
    »Morgen, ich schicke meine Männer.«
     
    Der Morgen graute. Zwei Strandvogtgehilfen kamen. Sie hatten Säcke und Schaufeln dabei.
    »Wo liegen sie?«
    Andreas Hartmann zeigte auf die Stelle.
    Sie stiegen in die Grube hinab. Sie hoben drei Skelette aus. Drei vollständig erhaltene Skelette, mit Wirbeln, Rippen, Armen, Beinen. Dann noch ein vierter Schädel ohne Torso. Die Männer steckten die Knochenteile in die Säcke, trugen sie auf dem Rücken über die Leiter nach oben. Dort luden sie sie auf den Wagen. Beim Aufschlagen der Säcke auf dem Karren ertönte helles Knochengeklapper.
    Andreas Hartmann erschauerte. »Passen Sie doch auf!«
    Die Männer beachteten ihn nicht.
    »Wann wird man sie beerdigen?«
    »Es sind Strandleichen. Wir werden sie woanders einbuddeln.«
    »Aber man muss sie doch beerdigen.«
    Die Männer antworteten nicht. Sie warfen den letzten Sack auf den Wagen. Andreas Hartmann zuckte zusammen. Wieder dieses Geräusch aufeinanderschlagender Knochen.
    »Ho«, rief der Fuhrmann. Der Wagen ruckelte von dannen.
    »Großer Gott«, flüsterte Andreas Hartmann.
     
    H
     
    Die Sargträger kamen. Medje sank in die Knie. Kraftlos hing sie in Keikes Armen und weinte stumme Tränen. Sie flossen in ihr Trauertuch, wie Regentropfen, die in Rinnsalen die Fensterscheibe hinunterglitten. Frederike war das dritte Kind, das Medje zu Grabe trug. Sie starb vor drei Tagen, mit ihrem Kind im Bauch. Das Kleine lag verdreht. Die Hebamme hat es nicht herausbekommen.
     
    Keike stützte Medje. Sie folgten dem Sarg. Der Pastor und der Küster gingen dem Leichenzug voran, murmelten Gebete, bis sie die Kirche erreichten. Als die Träger Frederikes Sarg am Altar abstellten, sangen alle:
     
    Mitten wir im Leben sind,
     
    von dem Tod umfangen.
     
    Medje bäumte sich auf. Ein Klageschrei zerriss die Luft im Kirchenschiff. Er gellte ins Kyrieeleison.
     
    Keikes Kehle schnürte sich zu. Sie konnte nicht mehr weitersingen.
     
    Lass uns nicht versinken,
     
    in des bittren Todes Not.
     
    Medjes Klagerufe hallten durch die Kirche. Alle Frauen weinten. Sie weinten um ihre Kinder, die sie verloren hatten und noch verlieren würden. Weinten einen Ozean von Tränen, in dem sie ertranken. Und wenn sich das Tränenmeer aufbäumte, wenn der Sturm die Wellen peitschte, versanken auch die Männer in den Tiefen der Fluten. Und wenn die Frauen nicht schwarze Kindersärge in ihren Herzen stapelten, dann schichteten sie die vom Meer ausgelaugten Knochenreste ihrer Männer.
    Kyrieeleison.
     
    Medje warf sich über den Sarg. Ihr Leib schlug hart gegen das Holz. Keike zog sie zurück. Medje wehrte sich nicht. Sie hatte keine Kraft mehr.
    Sie standen am Grab. Keike stützte Medje. Medje ließ eine Haarlocke von Frederike durch ihre Finger gleiten. Der Pastor nahm den Spaten zur Hand und schippte Erde auf den Sarg.
    »Erde zur Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staube.«
    Medje starrte in die Grube. Keike warf ein Knäuel Zwirn, eine Nadel, etwas Leinenzeug und eine Schere auf den Sarg. Frederike sollte Ruhe finden, und nicht als Wiedergängerin zurückkehren müssen.
    Die Träger warfen die Enden der Trageriemen kreuzweise über den Sarg. Dann schlossen die Totengräber das Grab. Die Erde fiel dumpf auf das Holz hinab. Dazwischen helle Schaufelgeräusche, ab und an schlug ein Kiesel ans Metall. Dann nur noch leises Schaben. Die Totengräber strichen die Erde glatt.
    Keike blickte auf Frederikes Grabstein.
     
    Wie die Blume bald vergehet
     
    So ist unser Leben, sehet.
     
    Er war an beiden Seiten mit einer gebrochenen Blüte geschmückt. Wenn Inselfrauen die Geburten überlebten und alt starben, waren ihre Steine mit ganzen Blumen verziert, als Symbol für ein langes Leben. Starben sie früh, blühten auf ihren Leichensteinen gebrochene Blüten.
    Die Abendsonne warf ausgedehnte Schatten über den Friedhof. Keike blickte auf die schwarzen, lang gezogenen Streifen, die Stein für Stein verbanden. Sie bildeten eine Kette aus ganzen und gebrochenen Blumen. Alle Inselfrauen waren Inselschatten. Schwarze Blüten, die sich danach sehnten, als roter Mohn zu leben. Roter Mohn hatte einen schwarzen Stempel in der Mitte, aber das Rot der Blütenblätter überwog. Die Blütenblätter waren zart und empfindsam wie Seidenpapier. Wenn die Sonne sie durchflutete, platzten sie auf und man sah sie weit über die Insel leuchten.
    Wie schön wäre es, eine

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