Die Insel der Witwen
musste vorangehen.
Am Freitag Abend spürte er die Anstrengungen der letzten Tage. Er versuchte, zur Ruhe zu kommen, stopfte seine Pfeife. Er entzündete den Tabak, paffte. Zur Ruhe kam er nicht. Er fühlte sich verspannt. Sein Nacken schmerzte. Er konnte nicht länger in seiner Baracke herumsitzen. Ein Gang zum Strand würde ihm gut tun.
Er nahm den direkten Weg über das Heidefeld, dann stapfte er durch die Dünen. Es war stockdunkel. Der Himmel war von einer dichten Wolkenschicht überzogen, hinter der sich Mond und Sterne versteckten. Nur die Glut seiner Pfeife leuchtete in der Finsternis. Feuchter Dunst umwaberte ihn. Heute erschien ihm die Insel noch finsterer als sonst. Der Sand gab unter seinen Füßen nach. Schritt für Schritt knirschte es unter den Stiefeln, Schritt für Schritt durchdrang ihn plötzlich ein einziger Gedanke. War er wirklich ein glücklicher Mann? Konnte er sein Leben als glücklich bezeichnen? Diese Insel, die Leere, das Nichts, das ihn umgab, ließen ihn auf den Grund seiner Seele blicken. Auf diesem Eiland konnte er sich nichts vormachen. Diese Insel führte ihm vor Augen, was ihm fehlte. Traurig zog er an seiner Pfeife. Ein schwaches Glimmen erhellte die Dunkelheit, die ihn umhüllte. Plötzlich flogen ein paar Vögel auf. Ein Flügel streifte seinen Kopf. Klüklüt, klüklüt, schrie es über ihm. Vor Schreck fiel ihm die Pfeife aus der Hand. Er drehte um und machte sich auf den Rückweg. Die Lust, zum Strand zu gehen, war ihm vergangen. Er wollte nur noch in sein Bett steigen, die Decke über den Kopf ziehen und schlafen.
Er geht durch Heide und Dünen. Die Glut seiner Pfeife leuchtet als einziges Licht in der Dunkelheit, denn der Himmel ist bedeckt und es sind keine Sterne zu sehen. Plötzlich wird es um ihn herum so hell, dass er geblendet ist und sich die Hand vor die Augen halten muss. Er blinzelt in das Licht und sieht, dass drei Frauen mit Feuerkränzen auf ihren Köpfen einen Reigen um ihn herumtanzen. Die Frauen sind wunderschön, aber sie singen eine abscheuliche Melodie, die in den Ohren schmerzt. Sie heulen und jaulen und sie drehen sich immer schneller. Eine der Tänzerinnen ergreift seine Hand und reißt ihn mit sich. Er kann sich nicht wehren. Er muss den Ringeltanz mittanzen. Plötzlich bleiben die Frauen stehen. Die Frau, die seine Hand ergriffen hat, hält einen funkelnden Becher in der Hand und gibt ihm zu trinken. Er setzt den Becher an und trinkt. Der Trunk perlt auf seiner Zunge. Er fühlt eine heiße Glut in sich aufsteigen. Die Frauen lachen und locken ihn in die Heidefelder. Sie fangen an, ihn zu liebkosen, küssen jeden Winkel seines Körpers, bis er lichterloh in Flammen steht und wie die Feuerkränze leuchtet, und er gibt ihnen zurück, was sie sich wünschen. Die Feuerkränze der drei Schönen erlöschen. Die Frauen erheben sich in die Lüfte und verlieren sich im Schwarz des Nachthimmels.
Andreas Hartmann erwachte am frühen Morgen. Er fühlte sich matt, aber gleichzeitig auch wohlig erquickt. Ungewohnt beschwingt und gut gelaunt begab er sich zur Waschschüssel, benetzte sein Gesicht mit Wasser, wusch sich unter den Achseln. Dabei bemerkte er ein paar eigenartige, rote Flecken auf seiner Haut. Er dachte nicht weiter darüber nach und streifte seine Kleider über. Als er seine Jacke überzog, entdeckte er ein Brandloch im Stoff. Er konnte sich nicht erklären, wie das passiert war. Es wird wohl die Pfeife gewesen sein, dachte er.
Er öffnete die Tür. Die Wolken hatten sich aufgelöst. Er atmete die gute Luft ein und lief tatendurstig zum Werkzeugschuppen hinüber.
Lorenzen kam ihm entgegen. »Hab von den Skeletten gehört, da wollte ich mal nach Ihnen schauen. Ich hab’s ja gesagt, dass die Düne nicht geeignet ist. Jetzt haben Sie sie aufgescheucht.« Er marschierte an den Rand der Baugrube. »Wo haben sie denn gelegen?«
Andreas Hartmann schüttelte den Kopf. »Das ist doch vollkommen unwichtig. Lassen Sie uns lieber darüber reden, warum man die Menschen auf Taldsum nicht gebührend und mit Gottes Segen beerdigt.«
Kapitän Lorenzen antwortete nicht darauf.
»Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, damit Sie besser verstehen. Vor vielen hundert Jahren spülten die Wellen den Leichnam eines Seemanns an den Strand. Die Inselmänner höhlten einen großen Baumstamm aus, legten den Toten hinein und begruben ihn. Von da an tobte die See, das Wasser brach ins Land herein und wälzte unvorstellbare Sandmassen vor sich her. Es war ein
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