Die Insel der Witwen
erwartet. Der Matrose, der mich an Land trug, war schwankend durchs Wasser gewatet. Dann ging er in die Knie, sodass sich meine Stiefel mit Wasser füllten. Ich schimpfte, aber das störte ihn nicht. Er lachte nur und tauchte mich bis zu den Oberschenkeln ein. Zwei Wochen zuvor war die Nordsee noch mit Eisschollen bedeckt. Aber sorge Dich nicht. Ich habe mich gleich umgezogen und mich nicht erkältet.
Trotz aller Widrigkeiten bin ich voller Tatendrang. Ich lasse mich nicht einschüchtern. Ich werde mit meinem Leuchtturm Licht in das Dunkel der Inselwelt bringen, gegen die Primitivität und für den Fortschritt kämpfen. Möge mein Leuchtturm den Schiffen als Stern unter den Wolken leuchten und sie von den gefährlichen Sänden und Klippen dieser Region abhalten. Hier sind Schiffbrüche so häufig, dass viele Inselbewohner ihre Häuser und Felder nicht mit Steinen, sondern mit Schiffsplanken umfrieden.
Lass Dir abschließend sagen, dass ich Dich und die Kinder sehr vermisse und ich mich aufrichtig auf meine Rückkehr freue. Bis dahin wird allerdings noch einige Zeit vergehen. Ich werde auf dieser trostlosen Insel meinen Mann stehen und mit all meiner Kraft den wohl wichtigsten und höchsten Leuchtturm in meiner bisherigen Laufbahn bauen.
Gott, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und es ist ein Licht auf meinem Wege.
Ich werde Dir bald wieder schreiben. Grüße die Kinder und gib ihnen einen Kuss von mir.
Dein Andreas
Andreas Hartmann faltete den Briefbogen, steckte ihn in ein Kuvert, fügte die Adresse hinzu. Er sah sein Haus, Almut und die Kinder vor sich, wie sie gemeinsam am Tisch zu Mittag aßen. Es war eigenartig, wenn er von einer Baustelle kam und wieder eine Zeit lang zu Hause wohnte, hatte er schon nach einigen Wochen das dringende Bedürfnis, wieder auf eine neue Baustelle zu fahren. Er liebte Almut, ganz gewiss, sie war eine tüchtige Frau, er konnte sich keine bessere vorstellen. Er liebte ihre Tatkraft. Sie war immer für ihn da, und natürlich für die Kinder, liebend und aufopfernd. Aber ihr strenges Haushaltsregiment und ihre Frömmigkeit nahmen ihm die Luft zum Atmen. Die ständigen Bibel-und Gebetsstunden, die Sauberkeit und absolute Ordnung bei steter Verkündung der christlichen Tugenden verwandelten sein Zuhause in ein Mausoleum. Er hatte das Gefühl, nur noch auf Strumpfsocken laufen zu dürfen und das Leben einstellen zu müssen. Almuts ständige Ermahnungen, ihre einfältige Frömmigkeit entnervten ihn. Sie stellte die Köchinnen nach ihrer Bibelkenntnis ein, nicht nach ihrer Kochkunst und die Hebamme wählte sie danach aus, ob sie den Katechismus aufsagen konnte. So kam es immer wieder dazu, dass er mit Erleichterung das Haus verließ und Gott dafür dankte, einen Beruf auszuüben, der ihm ermöglichte, der häuslichen Enge zu entfliehen.
Hatte er jedoch einige Zeit auf dem Bau verbracht, sehnte er sich nach Almut, nach den Kindern und nach der geordneten Häuslichkeit. Ich habe eine kultivierte und schöne Frau, dachte er. Sollte er sich über eine treue, fromme und liebende Frau beklagen? War er wieder zu Hause, begann der Kreislauf von vorn. Die anfängliche Wiedersehensfreude verwandelte sich schnell in ein schales Gefühl der Dankbarkeit. Wenig später war er von ihren Anweisungen und Belehrungen peinlich berührt.
Danach folgte immer das zermürbende Gefühl des Eingesperrtseins, das ihn wieder aus dem Haus trieb. Dennoch, er führte eine gute Ehe. Almut war für die Häuslichkeit zuständig. Es war ihre Welt. Er respektierte ihr ordnungsliebendes, religiöses Leben. Die Ehe mit Almut bescherte ihm ein behütetes Zuhause, für dessen Erhaltung er mit seiner Arbeit sorgte. Solange er seine Baustellen hatte, seine Leuchttürme bauen konnte, war er ein glücklicher Mann.
H
Das Wetter hatte sich beruhigt. Keike kletterte auf die Leiter, um das Dach auszubessern. Es hatte bei den Stürmen stark gelitten. Der Wind war durchs Reet gefegt. Einige Dachsoden waren heruntergefallen, und am obersten First hatten sich die Holzpflöcke gelöst.
Keike füllte die Lücken aus. Sie arbeitete nicht gern auf dem Dach. Früher hatte Harck es repariert. Aber sie war es nun seit Jahren gewohnt, alles allein zu machen. Sie knotete ihre Fischernetze, ging fischen und bestellte die Saat. Sie erntete, fuhr das Heu ein, schlug Heide und stach Torf für die Wohlhabenden auf der Insel, und im Herbst drosch sie wochenlang das Korn für die Bauern, um ein paar Pfennige
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