Die Insel der Witwen
unter die Erde kroch. Und sie musste rote Tränen weinen, die am Morgen als düstere Flecken auf dem Laken hafteten.
»Heirate Harck«, tönte es wieder
»Aber ich bin doch ein Sturmkind.«
»Du bist ein Sturmkind, Keike, geboren in einer Sturmnacht. Niemand befürchtete eine hohe Flut, weil der Mond im letzten Viertel stand. Dann aber kam das Wasser so schnell, dass wir uns nicht mehr in das höher gelegene Nachbarhaus flüchten konnten. Das Wasser stieg und stieg. Die Wellen schlugen Fenster und Türen heraus. Wir mussten auf den Heuboden fliehen. Wir hörten, wie die Wogen an die Hausmauer schlugen, wie die Kühe im Stall brüllten, bis das Wasser sie mit sich riss und ihre Todesschreie in der Gischt untergingen. Ich höre es noch heute, dieses verzweifelte Brüllen.
Das ganze Haus erbebte unter der Wucht der Wellen. Deine Großmutter und ich kletterten in den östlichen Teil des Bodens. Wir befürchteten, dass die westliche Mauer zuerst einstürzen würde. So geschah es. Der Dachstuhl brach ein. Der Hahnenbalken stürzte auf mich herab. Großmutter beeilte sich, Heu herauszupflücken, damit ich nicht erdrückt werde, doch der Dachstuhl samt Dach sank immer tiefer. Wir beteten zu Gott. Plötzlich hoben sich Dachstuhl und Dach. Wie ein Zelt. Sturm und Flut trugen es fort. Wir lagen unter freiem Himmel, um uns herum die tosenden Wasserfluten. Der Heuboden schwankte hin-und her. Wir erwarteten jeden Augenblick den Tod. Da sprach der Allmächtige zu den Wogen: ›Bis hierher und nicht weiter!‹ Und Meer und Wogen wichen zurück. Die Ebbe kam und als das Wasser weit genug gesunken war, brachten uns die Nachbarn in ihr Haus. Zwei Stunden später kamst du zur Welt, Keike.
Als das Wasser gesunken war, lief ich zur Kirche, um Gott zu danken. Ich ging mit dir auf dem Arm über den Kirchhof. Das Wasser hatte die Särge aus der Erde aufgespült. Viele waren zerbrochen. Überall lagen die Gebeine der Toten verstreut. Köpfe, Gerippe, Knochenteile. In all dem Totengebein sah ich eine Ente umherlaufen. Sie begann, in einen morschen Sarg ein Nest zu bauen. Da wusste ich, Keike, dass dein Vater nicht mehr zurückkehren würde.«
Keike stand auf der Leiter, ihren Leib gegen die Sprossen gepresst. Die Ente, dachte sie, die Ente in den Totenknochen, die mit dem Nest im Sarg, diese Ente war sie selbst.
4
Andreas Hartmann schickte die Arbeiter in die Baugrube. Die Männer kletterten die Leiter hinab.
»Beeilt euch, der Grund muss geebnet sein, bis die Steine kommen.«
Die Arbeiter stießen ihre Schaufeln in den Sand. Sie brauchten die dreifache Kraft, um die durchfeuchteten Sandmassen zu bewegen. Missmutig stachen sie zu, dumpf fielen die feuchtschweren Klumpen in die Karren. Plötzlich ließ einer der Männer seine Schippe fallen.
»Da.« Er zeigte mit dem Finger in den Sand.
Die Arbeiter liefen zusammen.
Andreas Hartmann stand am Grubenrand. »Was ist los? Warum geht es nicht weiter? Ist jemand verletzt?«
»Da liegt ein Totenschädel«, rief Martens, der Vorarbeiter. »Wenn das kein schlechtes Zeichen ist.«
Alle Männer ließen nun ihre Werkzeuge fallen.
Einer nach dem anderen kletterte die Leiter hinauf.
Martens trat vor. »Wir gehen da nicht wieder runter, solange das Ding da liegt.«
Andreas Hartmann war machtlos. »Dann hol den Strandvogt.«
Andreas Hartmann kletterte in die Baugrube. Er betrachtete den Schädel. Vorsichtig schob er mit der Schaufel den Sand beiseite. Weitere Knochen kamen zum Vorschein. Darauf noch ein Schädel.
Er spürte, wie Angst in ihm aufstieg. Nun ließ auch er die Schaufel fallen und erklomm die Leiter. Auf halber Strecke gaben seine Beine nach. Er umklammerte die Leiter, als würde er an einem Mast hängen. Einen Moment lang, er wusste nicht wie lang, verharrte er in dieser Position.
»Ist was?«, rief ein Arbeiter vom Grubenrand hinunter.
Er kam wieder zu sich. Es fiel ihm schwer, die Hände zu lockern. Mit flauen Knien und noch immer schwindlig erklomm er Sprosse für Sprosse. Am Rande der Grube setzte er sich. Sein Gesicht war schweißbedeckt, trotz der kühlen Witterung. Ohne sich zu erklären flüchtete er in seine Baracke.
Der Strandvogt hatte sich Zeit gelassen. Er kam erst am späten Nachmittag. Andreas Hartmann hatte sich wieder gefasst.
»Dort unten liegen menschliche Skelette. Bergen Sie sie bitte, damit wir weiterarbeiten können.«
»Vor morgen früh wird das nichts. Es dämmert schon.«
»Warum sind Sie so spät gekommen? Mein Vorarbeiter ist schon heute
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