Die Insel der Witwen
Mohnblume zu sein. Oder ein Marienkäfer, der seine roten Flügel spreizt, sich surrend vor Vergnügen in die Lüfte erhebt, und die schwarzen Punkte auf seinem Rücken nicht mehr spürt. Schwarze Flecken, die verfliegen wie ein zarter Duft.
H
Die Flut war höher als gewöhnlich. Bernsteinzeit. Sie würden zwischen dem Meerestorf, den Braunkohlen und Holzstückchen schöne Brocken finden. Bernstein war honiggelb oder rot. Er schimmerte grün oder braun. Wenn man ihn entdeckte, war er meistens verkrustet. Erst geschliffen glänzte er wie die Augen ihrer Töchter.
Die Mädchen liefen voraus. Sie bewarfen sich mit Quallen, lachten und hüpften im Watt umher. Ich liebe euch, meine kleinen Seepferdchen, dachte Keike. Ich werde immer dafür sorgen, dass ihr zu essen habt und die Schule nicht versäumt. Ich werde arbeiten, so viel ich kann. Keike hörte die Mädchen lachen. Und ich werde euch beschützen. Sie ließ sie nur zu zweit über die Insel laufen, drohte ihnen mit den Mondmännchen und ihrem Geisterschiff, wenn sie nicht horchten. Das Geisterschiff war unsichtbar. Es kreuzte des Nachts vor der Insel, geräuschlos, ohne dass das Wasser gluckste oder Masten knarrten. Die unsichtbaren Männchen brachten unartige Kinder auf das Schiff. Die Kinder kamen niemals zurück. Und wenn es windstill war und der Mond rund wie ein Ball, konnte man das Kichern der Männchen und das Jammern der Kinder hören.
Wieder das helle Lachen ihrer Töchter. Keike wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Wer den ersten Bernstein findet, kriegt morgen das größte Ei zum Frühstück.« Die Kinder wussten es längst. Bernsteintage waren Eiertage.
Sie stocherten mit Stöckchen in den schwarzen Wattenflecken.
»Ich habe einen!« Göntje gluckste vor Freude.
»Schlag den Stein an den Zahn. Aber sei vorsichtig.«
Göntje zog die Oberlippe nach oben. Ihre schneeweißen Zähne strahlten. Sie legte den Kopf zur Seite, führte den Brocken zum Mund. Mit verträumtem Blick klopfte sie das Steinchen an den Zahn. Horchte. Ein weiches klockklock ertönte.
»Ein Bernstein!«
Keike sah in Göntjes Augen das Meer leuchten. Ihr Herz zerfloss. »Dann steck ihn ein, mein Seepferdchen.«
Sie suchten weiter, hoben diesen und jenen Klumpen auf. Göntje zupfte an ihrem Rock.
»Mutter, erzähl vom Meermann und seiner Frau.«
»Aber ich habe dir die Geschichte schon so oft erzählt.«
»Nochmal!«
»Also gut. Vor langer Zeit geriet ein Segelschiff auf der Reise nach England bei einem fürchterlichen Sturm in große Gefahr. Plötzlich klemmte auch noch das Steuerruder. Als die Schiffsleute über Bord sahen, um nach dem Ruder zu schauen, tauchte dicht am Ruder der Kopf eines Wassermanns aus den Wellen auf. Die Seemänner erschraken, denn der Wassermann sah aus wie ein grünes Ungeheuer. Er hatte einen langen Bart aus Seetang und große, grüne Fischzähne. In der rechten Hand hielt er einen Aalstecher mit fünf Zacken und scharfen Widerhaken.
›Holt den Kapitän‹, rief der Wassermann, ›macht schnell.‹
Die Seemänner gehorchten.
›Wer bist du und was willst du?‹, fragte der Kapitän.
›Ich bin der Meermann, meine Frau bekommt ein Kind; sie braucht Hilfe. Der ganze Ozean bäumt sich auf von ihren Schreien. Sie tobt und wütet. Deine Frau muss zu uns herunterkommen und ihr bei der Geburt helfen.‹
›Meine Frau ist unter Deck. Sie kann nicht kommen‹, antwortete der Kapitän.
›Sie muss kommen!‹ rief der Wassermann. ›Sonst macht meine Frau noch höhere Wellen, und ihr geht alle unter.‹
Die Frau des Kapitäns hatte alles gehört: ›Ich komme‹, rief sie und stieg mit dem Meermann hinab in die Tiefe.
Die See beruhigte sich bald. Die Wellen bewegten sich so sanft, als würden sie eine Wiege schaukeln. Eine kleine Welle trug ein Wiegenlied an das Ohr des Kapitäns. Nun wusste er, dass das Kind geboren war. Da tauchte seine Frau wieder aus den Tiefen der See auf.
›Das Meerweib hat ein Kleines bekommen‹, rief sie.
›Und sie sagt, dass wir Frauen von nun an alle unsere Neugeborenen aus dem Meer fischen können.‹«
»Hast du mich auch aus dem Meer gefischt?«, fragte Göntje.
Und wie immer antwortete Keike: »Aber sicher.« Und sie zog an ihren Ohren. »So habe ich dich herausgezogen und dann in ein warmes Wolltuch gewickelt und mit nach Hause genommen.«
Keike ließ Göntje unter ihren Rock kriechen.
Göntje kicherte. Auch Marret schlüpfte unter den Rock. Sie waren glücklich.
Sie kehrten zum Ufer zurück.
Weitere Kostenlose Bücher