Die Insel der Witwen
mehr zu haben. Sie kannte nur Arbeit und Armut. Keike schwindelte. Sie hielt sich fest, fand das Gleichgewicht wieder. Sie mühte sich mit einem Bündel ab. Es wollte nicht richtig sitzen.
Immer nur Arbeit. Acht Jahre alt war sie gewesen, als die Mutter sie zum Kühehüten schickte. Sie musste die Rinder in den Dünen zusammentreiben. Sie hatte nur ein Stöckchen in der Hand und große Angst vor den Tieren. Aber das nützte nichts. Sie brauchten die Pfennige, die sie als Kuhmagd verdiente. Mutter und sie waren ja allein. Keike passte das Halmbündel ein, drückte es fest. Wieder rutschte es weg. Mutter war sehr streng. Ihre Berührungen waren hart, ihre Stimme fest. Wenn sie, Keike, vor Hunger weinte, rief Mutter ihr in barschem Ton zu, mit dem Gejammer aufzuhören und dass es nichts änderte. Dann schickte sie sie zu den Kaninchenfallen, zum Beerensammeln oder zum Betteln, wenn die Natur nichts zum Essen bot. »Man muss durchkommen, Keike.« Man muss durchkommen, man muss durchkommen, echote die Stimme der Mutter. Keike schwankte, klammerte sich an die Leiter.
»Heirate Harck«, hörte sie die Mutter rufen, »er ist ein guter Junge. Sein Vater ist Speckschneider. Eines Tages wird auch Harck Speckschneider sein. Er wird gut verdienen und im Winter zu Hause sein.«
»Aber ich liebe ihn nicht. Er gefällt mir nicht.«
»Harck wird seine Heuer nicht verhuren und dir keine Krankheiten ins Haus schleppen. Das ist mehr Liebe, als du verlangen kannst.«
»Aber ich bin ein Sturmkind.«
»Stürme legen sich, Keike.«
An ihrem Hochzeitstag band Mutter ihr das rote Kopftuch der Ehefrauen. Auch ihr Kleid und die Schleifen waren rot. Sie bebte vor Aufregung, aber sie glühte nicht. Das Feuer loderte nicht. Es war windstill in ihrem Herzen.
Der Brautwagen kam, an den Ecken mit Blumen dekoriert und hoch oben der Spinnrocken. Sie wurde auf den Wagen gehoben. Harck ritt voran. Die Brautjungfern gingen hinter dem Wagen. Sie trugen den Teekessel. Überall flatterten an den Wegen bunte Fahnen. Und die Hochzeitsgäste sangen »Wie schön leuchtet der Morgenstern, voll Gnad und Wahrheit vor dem Herrn …«
Sie hatte nur Bruchstücke gehört, hatte neben Harck gestanden und geträumt. Die Zauberweiber kamen geflogen. Eine von ihnen sprang Harck auf die Schulter und drückte ihm die Arme zusammen. Die anderen hoben sie empor und setzten sie auf den Dünensee zu den weißen Schwänen. Als sie das Wasser berührte, verwandelte sie sich in einen Schwan. Sie flatterte fröhlich mit den Flügeln, erhob sich in die Lüfte und flog nach Süden.
»Schatz … König … Bräutigam … Freudenkrone …«
Das Lied endete. Die Menschen lachten. Warum die Braut denn so mit den Armen rudere, wollten sie wissen.
Sie betraten die Kirche. Sie stand zu Harcks Rechten, Harck zu ihrer Linken. Der Pastor segnete sie.
»Was Gott zusammengefügt, das soll der Mensch nicht trennen.«
Nun waren sie Mann und Frau.
Alle zogen zum Haus. Sie bekamen den Ehrenplatz unter dem Spiegel. Es gab den Hochzeitspudding. Dann brachten die Brautjungfern den Schinken. Sie hatte keinen Bissen hinunterbekommen.
Das Fest währte die ganze Nacht. Die Gäste tanzten und sangen ›Raum ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar‹. Sie zogen sie mit Harck auf die Tanzfläche. Sie mussten tanzen und sich küssen. Sie tanzte, küsste, drehte sich, wie ohnmächtig. Plötzlich sah sie die roten Zwerge kommen. Sie waren aus den Tiefen der Dünenberge, der Moore und Heiden aufgestiegen, um ihr Brautgaben zu überreichen. In leuchtenden Kostümen brachten sie ihr Geschenke. Ein Schälchen Beeren oder Muscheln, ein Töpfchen Milch oder Honig, einen Besen, hölzerne Löffel. Der letzte brachte ein Bettlaken. Es war weiß. Hinter dem Zwerg mit dem Bettlaken schritt der König. Er hatte eine Korallenkrone auf dem Kopf. Als er ihr in die Augen schaute, verwandelte er sich in den Mann, von dem sie träumte. Der König kam auf sie zu, reichte ihr die Hand. Seine Augen leuchteten wie Smaragde.
»Du bist meine Königin«, flüsterte er und führte sie sanft in das Himmelbett.
Küsse, Schwindel, Hände, die sie packten. Sie wurden in die Schlafstube gezogen. Die Brautjungfern zerrten an ihren Beinen. Sie zogen ihr die Strümpfe aus, schwangen sie über dem Kopf und tanzten um sie herum. Dann verließen sie das Zimmer. Sie saß auf der Bettkante, starr und kalt wie ein Eiszapfen. Harck kam auf sie zu. In der Ferne sah sie, wie ihr König zurück in die Höhlen
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