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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Fohl
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klappernden Knochen auf ihn zu, drohten ihn zu erdrücken. Sie kamen immer näher. Er stöhnte auf.
    Nissen legte ihm die Hand auf die Schulter. Andreas Hartmann zuckte zusammen.
    »Gehn Sie man zurück. Das hier ist nichts für Ingenieure.«
    Zwei von Nissens Männern packten die Toten und luden sie auf einen Karren. Sie entschwanden hinter der Düne und verscharrten die Leichen.
    Andreas Hartmann schwankte zur Baustelle zurück. Mehrfach sah er sich um. Die Skelette folgten ihm noch eine Weile. Dann zerfielen sie in einzelne Knochenteile und lösten sich in Sand auf.
     
    H
     
    Aussage des Bruders Friedrich Hartmann, Fabrikant für Schiffszubehör:
     
    Mein Bruder war immer schon eigen. Im Internat fühlte er sich auch nicht wohl. Dass seine Nerven nach der Inselbaustelle über die Maßen stark angegriffen waren, bemerkte ich erst, als er uns besuchen kam. An einem Freitagmorgen stand er mit einer Tasche vor der Tür. Ich wollte gerade in die Fabrik gehen. Er sagte, er gehe jetzt zum Hafen, um nach Amerika zu fahren. Er wolle sich verabschieden. Er äußerte das alles in einem vernünftigen Ton. Dennoch erschien er mir seltsam. Ich bat ihn, noch eine Tasse Kaffee mit uns zu trinken und fragte ihn, was er denn in Amerika wolle. Daraufhin schwieg er. Er holte eine Tabaksdose heraus, drehte sie in der Hand, klappte sie auf und zu.
     
    »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich werde sehen.«
     
    »Hast du denn alle Unterlagen, die du brauchst, und eine Schiffspassage?«, fragte ich ihn behutsam, weil ich mehr und mehr ahnte, dass etwas mit ihm nicht stimmte.
     
    Er schwieg.
     
    »Ich geh jetzt«, flüsterte er, »ich muss.«
     
    »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du wirklich mit dem Schiff über den Atlantik fahren willst«, erwiderte ich dann.
     
    Ich habe ihn schließlich überreden können, wieder nach Hause zu gehen. Ich begleitete ihn und riet meiner Schwägerin, Dr. Albers zu rufen. Als er eintraf, verhielt sich mein Bruder vollkommen normal. Dr. Albers lachte und sagte: »Das menschliche Hirn macht so manchen merkwürdigen Rösselsprung. Solange es dabei bleibt, mit einer Tasche durch Hamburg zu ziehen und eine Reise machen zu wollen …« Dann wurde er ernster. »Herr Hartmann, Sie brauchen eine Pause, Sie müssen dringend ausspannen. Sie sind vollkommen überreizt. Ich schreibe Ihnen ein paar beruhigende Mittel auf. Und ich erteile Ihnen Arbeitsverbot. Außerdem werden Sie jeden Tag einen ausgedehnten Spaziergang machen und regelmäßig Ihre Mahlzeiten zu sich nehmen. Und im Frühjahr, das müssen Sie mir versprechen, fahren Sie in Kur.«
     

6
    Totenstille lag über der Insel. Niemand lachte. Alle schlichen niedergedrückt über die Wege, alle verrichteten schweigsam und in Gedanken versunken ihre Arbeiten. Tagelang hatten Frühjahrsstürme getobt. Der Wind hatte das Meer mit heftigen Stößen aufgewühlt und in ein Leichengewässer verwandelt. Unter den weiß schäumenden Gischtkronen wogten die schwarzen Wellen, die ihren schweren Mantel über die Menschen schlugen und sie mit rauschendem Getöse auf den Grund zogen.
     
    Zwei weitere Schiffe waren gestrandet. Das erste saß eines Morgens mit Notflagge auf den Sanden. Knudt Nissen ließ das Rettungsboot bemannen. Er selbst blieb an Land. Die Männer ruderten hinaus. Als sie Kurs Nord gehen wollten, lief eine hohe Grundsee quer gegen das Boot und brachte es zum Kentern. Die Männer wurden herausgeschleudert und trieben bis auf zwei Mann in ihren Korkwesten im Meer. Wie durch ein Wunder hatte sich das Boot wieder aufgerichtet, wohl, weil der Mast auf Grund geschlagen war. Vier Männer konnten gerettet werden, zwei gingen in den Fluten unter.
     
    Totenstille.
    Das zweite Schiff war unbemannt. Es war im Morgengrauen im Norden der Insel gesichtet worden. Die Nachricht verbreitete sich schnell. Viele Fischer machten ihre Beiboote klar, um als Erste zum Schiff zu gelangen. Jeder hoffte auf große Beute. Mehrere Boote ruderten im Wettlauf hinaus. Aber sie kamen nicht weit. Die See sperrte ihren Rachen auf, verschlang zwei Boote und ließ sie in den Tiefen ihres Schlundes verschwinden.
    In wenigen Minuten waren elf Männer von der Insel ertrunken. Der Älteste war einundsechzig Jahre alt, der Jüngste achtzehn. Zehn Frauen hatten ihre Männer verloren. Zweiundzwanzig Kinder ihren Vater.
    Der Pastor hatte eine weitere Witwenbank in der Kirche eingerichtet. Der Trauerflor und die Tränen der Frauen und Kinder ergossen sich über die Bank wie das Tuch, das das

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