Die Insel der Witwen
Wir wollten uns nicht trennen. Meine Mannschaften murrten. Wiwerröck an Boord bringt Stried und Moord. Wie oft habe ich das gehört. Aber das war mir egal. Als Kapitän war es mein Recht, meine Frau mitzunehmen. Ich freute mich, dass Ike bei mir war.«
»Sind Sie schon lange Witwer?«
»Seit dreizehn Jahren.«
Andreas Hartmann goss Rum in die Becher. »Nehmen Sie sich Brot, wenn Sie möchten.«
»Danke.«
Lorenzen nahm eine Scheibe. Andreas Hartmann reichte ihm die Butter.
»Woran ist Ihre Frau gestorben, wenn ich fragen darf?«
»Das Herz.« Lorenzen wischte mit der Hand über die beschlagene Fensterscheibe.
»Das Wetter ist gar nicht so schlecht heute.«
»Hm. Ja, immerhin regnet es nicht.« Der Kapitän schmierte sein Brot. »Wie viele Leuchttürme haben Sie schon gebaut?«
»Vier, aber noch keinen auf einer Insel.«
»Warum nicht?«
»Ich … Ehrlich gesagt, ich hatte Angst vor der Fährfahrt. Ich bin seit dem Schiffsunglück nicht mehr mit dem Schiff gefahren.«
»Ich fahr’ auch nur noch ab und zu zum Angeln raus. Ich bin nicht mehr von der Insel herunter seitdem.«
»Pastor Jensen hat angedeutet, dass …«
»Jensen, Jensen, man sollte ihn im Watt versenken. Wissen Sie, Jensen kam aus Würzburg auf die Insel. Niemand weiß, was ihn hierhertrieb. Es liegt doch auf der Hand, dass er strafversetzt wurde. Seine Frau ist übrigens die Witwe unseres verstorbenen Inselpastors. Jensen hat sie geheiratet, um die Witwenrente, die er sonst hätte zahlen müssen, zu sparen. Eva war damals dreißig Jahre alt. Wenn sie ihn nicht geheiratet hätte, hätte sie aus dem Pastorat ausziehen müssen. Darüber hinaus mochte sie ihn wohl wirklich.
Soll ich Ihnen was sagen? Jensen ist kein Seelsorger, sondern eine Inselplage. Ein Schmarotzer im Gottesgewand. Und dieser Kerl erfrecht sich, mir die Schuld an dem Unglück zu geben. Ich hatte keine Schuld. Ich habe so gehandelt, wie es möglich war. Es waren unglückliche Umstände.« Lorenzen nahm seine Mütze ab, legte sie auf den Tisch. Er stöhnte leise auf. Seine Stimme klang heiser. »Das Schiff war kurz vor New York, als ich den Befehl gab, die Zwischendecks mit Teer auszuräuchern. Das war reine Routine. Desinfektion vorm Einlaufen in den Hafen. Aber die Matrosen haben nicht aufgepasst. Der Teer fing Feuer. Das Feuer breitete sich so schnell aus, dass die Dampfmaschine nicht mehr gestoppt und das Schiffsruder nicht mehr bedient werden konnte.«
Es dauerte eine Weile, bevor Lorenzen weitersprach. Seine rot geäderten Augen flackerten unruhig. »Es gab eine Explosion. An Bord brach Panik aus. Ich versuchte, zu kommandieren, aber die Menschen wüteten und schrien vor Angst. Von den Rettungsbooten konnte nur eins zu Wasser gelassen werden. Alle anderen hatten die Besatzung und die Passagiere so stark beschädigt, dass sie nicht mehr schwimmfähig waren. Ich …« Lorenzen unterbrach. Die schlohweißen, buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Das Schiff sank. Fast alle ertranken. Nur einundsechzig Menschen konnten gerettet werden. Ein paar Schiffe, die das Feuer gesichtet hatten, fischten sie auf.«
»Waren Sie auch im Rettungsboot?
»Nein. Ich … ich bin über Bord gesprungen. Ich habe mein Schiff im Stich gelassen. Und meine Schwiegertochter und meinen Enkel. Sie waren an Bord. Sie wollten zu meinem Sohn nach New York.« Er vergrub das Gesicht in den Händen.
Andreas Hartmann schwieg. Er wusste nichts zu sagen. Er spürte, wie seine alten Ängste in ihm aufstiegen.
Der Kapitän streifte die Hände über seinen Bart, sah ihn mit flehenden Augen an. »Niemand hätte die Panik in den Griff gekriegt. Die Boote waren innerhalb von Minuten zerstört.« Er atmete schwer. Stockte. »Ich bin gesprungen. Ich werde mir das nie verzeihen. Ein Kapitän hat das Schiff als Letzter zu verlassen oder muss mit ihm untergehen. Ich wünschte, ich wäre nicht gesprungen. Ich wünschte, ich hätte das Unglück nicht überlebt. Ich wünschte, meine Schwiegertochter hätte es mit dem Kleinen geschafft.« Lorenzen lehnte sich zurück. »Der Schuh, nach dem Sie mich fragten, ist von meinem Enkel.« Er starrte auf die Tischplatte. »Ich werde mich nicht fürchten, wenn Gott auch mich zu sich holt.«
Er sah zu Andreas Hartmann auf, zog die Stirn in Falten. Seine Stimme klang gebrochen. »Ich habe Tage, an denen ich nicht Herr meiner Sinne bin. Neulich, als Sie nach dem Schuh fragten und ob ich Menschen ans Meer verloren hätte, wäre es mir beinahe wieder passiert. Es ist, als
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