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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Fohl
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mir immer schon leichtgefallen. Auch Naturphilosophie, Zeichnen und Mechanik haben mich sehr interessiert. Jetzt baue ich Leuchttürme. Die Arbeit ist vielseitig. Das gefällt mir. Jede Baustelle ist ein neues Abenteuer. Er blätterte. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen.
    Er konnte Almut nur entkommen, wenn er auf die Baustelle fuhr. Sie kontrollierte ihn. Sie sammelte jede einzelne Schuppe von seiner Jacke. Sie war Tag und Nacht dabei, über ihn zu wachen. War er denn ein Kind, das ständig beaufsichtigt werden musste? Was war nur mit ihm? Er war undankbar. Almut sorgte für sein Wohl und er beschwerte sich darüber.
    Wenn er mit einer Grippe zu Bette lag, überkam sie eine fast freudige Betriebsamkeit. Er konnte es nicht ertragen, dieses ›Mein Lieber, ich bringe dir ein Süppchen, und dann mache ich dir Wadenwickel. Und Dr. Klarsen hat mir eine Medizin dagelassen, die werde ich dir morgens und abends geben.‹
    Er schüttelte den Kopf. Er fühlte sich schlecht, so zu denken. Almut war ein guter Mensch. Ein Engel geradezu. Sie sorgte sich um ihn, um die Kinder, um ihre Eltern, um die Armen in der Stadt, um … Sie war eine in Flanell gehüllte Betschwester, die nach Mottenkugeln und Kirchenstaub stank und dicke Wollsocken über ihren Knöcheln trug. Und er war jahrelang in ihrem Wollstrumpf eingewickelt, der naphthalingetränkt im Schrank eingesperrt lag.
    Mit einem lauten Paff klappte er sein Baubuch zu. Das Leben war eine Pflicht, die man zu erfüllen hatte. Er musste sich damit abfinden, dass es so war, wie es eben war. Hatte es wie jeder andere anständige Mann zu ertragen. Es ging doch nur darum, den Alltag gemeinsam zu bewältigen. Er war zufrieden, mit dem, was er geschaffen hatte, mit seiner Frau, mit seinen Kindern. Aber warum nahm er sein Leben nur durch einen Schleier wahr? Er wünschte sich, zu genießen, die Welt um sich herum zu spüren. Er wünschte sich, mit seiner Frau und den Kindern zu lachen, die Blumen im Garten schön zu finden. Stattdessen war er meist bedrückt und ruhelos. Es war das Schiffsunglück, das so schwer auf ihm lastete, das sein Leben in diesen Nebel hüllte. Undurchdringlich, wie der Nebel auf der Insel. Eine graue Schattenwand, die ihn von der Buntheit des Lebens trennte. Nur gut, dass er seine Leuchttürme hatte. Wie zufällig blickte er wieder zum Stiefel.
     
    H
     
    Keike humpelte keuchend durch die Dünen. Sie sah seine zornigen Augen vor sich, wie Flammenpfeile. Sie lief, kam nicht voran, zog den linken Stiefel aus und warf ihn in den Sand. Lief auf Strümpfen weiter, so schnell sie konnte. Der Nebel war immer noch dicht. Er schützte sie.
     
    Sie blieb stehen. Sie hatte Seitenstiche. Ihr Herz pochte schnell und laut, wilder als der Wind und die Wellen. Sie blickte in die Nebelwand. Süße Träume stiegen im Dunst auf. Eine Hitzewelle überzog ihren Leib. Sie dachte an Meerjungfrauen, die mit den Seemännern in den Wellen spielten. Wo sie schwammen, sprühten rotgoldene Funken. Die Träume umspannen sie, sie konnte sie nicht verscheuchen. Sie spürte seine Hände, seinen Körper, seinen Atem, der über ihre erhitzten Wangen hauchte wie der Duft von frischfeuchtem Dünensand im Frühling. Sie lief weiter durch den Traumnebel, tanzte mit ihm in den Wellen.
    Plötzlich wurde sie aus ihrer Fantasie gerissen. Eine große schwarze Masse lag im Sand. Sie konnte nicht erkennen, was es war. Ein Mensch, ein Tier, ein Gegenstand? Sie wagte nicht, näher heranzugehen, spähte angestrengt durch den Dunst. Eine Nebelschwade lichtete sich. Es war ein Seehund. Er schien zu schlafen. Keike wartete. Er witterte sie nicht. Sie legte sich flach auf den Boden, kroch voran, die Arme und Beine eng an den Körper gepresst. Sie zog ihr Messer, beugte sich über seinen Leib, stach blitzschnell zu. Das Tier kreischte. Sie zog das Messer wieder heraus. Wollte nochmals zustechen. Es wand sich und schnappte nach ihr. Das Messer fiel ihr aus der Hand. Sie warf sich auf seinen Rücken. Der Seehund wollte sie abschütteln, aber sie umklammerte ihn, versuchte ihn zu erwürgen. Es gelang nicht. Er robbte zum Meer, sie krallte sich auf seinem Rücken fest. Nicht loslassen, bloß nicht loslassen. Ein Stein, sie brauchte einen Stein. Das Tier erreichte das Wasser. Keike schlug mit der Faust auf seinen Kopf. Der Seehund brüllte. Er wälzte sich hin und her. Sie rutschte ab. Das Tier tauchte im Meer unter.
    Keike lag im Wasser. Ihre Wunde blutete. Über ihr ertönte der scharfe Schrei einer Möwe.

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