Die Insel der Witwen
Meer über ihre Männer und Väter warf.
Alles Leben war von der Insel gewichen. Die Menschen huschten wie Schatten über die Wege. Die Todesstimmung schlug Andreas Hartmann aufs Gemüt. Wenn er nur arbeiten könnte. Aber er war zur Untätigkeit verdammt. Wann würden die neuen Maurer kommen? Er musste vorankommen, weiterarbeiten. Es war zum Verrücktwerden. Das Blut stieg ihm ins Gesicht. Sein Herz raste. All die Toten, all die Strandungen. Als hätte diese Insel die Absicht, ihn an den Rand seiner Kräfte zu führen. Wie ein Riesenkrake wickelte sie ihn mit ihren Totententakeln ein, hielt ihn mit ihren Saugnäpfen fest. Unruhe überfiel ihn. Unstet blätterte er in seinen Fachbüchern, sprang von einem Kapitel, von einem Buch zum nächsten, gab schließlich auf, warf die Bücher beiseite, ließ sich aufs Bett fallen. Er könnte hinausgehen, dachte er, hatte aber keine Lust dazu. Seine Gedanken kreisten, verkanteten sich. Wie wäre sein Leben verlaufen, wenn er das Schiffsunglück nicht erlebt hätte? Hätte er dann Leuchttürme gebaut? Vielleicht wäre er Musiker geworden. Mutter hatte ihn das Harmoniumspielen erlernen lassen. Zweimal in der Woche hatte er Unterricht gehabt. Er übte fleißig. Und er war begabt. Der Lehrer schlug ihn für das Konservatorium vor.
Andreas Hartmann spürte die Tasten unter seinen Händen, wie die Fingerkuppen auf dem Holz tanzten. Wenn er damals spielte, vergaß er die Welt um sich herum. Er schwebte in Klang und all sein Tun war darauf gerichtet, den Klang zu verbessern, dem Spiel Nuancen zu verleihen, Musik zu erschaffen, die ihn in einen Zustand der Schwerelosigkeit versetzte. Er verschmolz mit seinem Instrument, mit der Musik. Er selbst war die Musik.
Dann war alles vorbei. Von einem Tag auf den anderen. Er hatte nie wieder gespielt und auch die Musik interessierte ihn nicht mehr. Nicht einmal Jule verriet er, dass er Harmonium gespielt hatte. Nicht einmal, als er ihr seine alten Noten gab, konnte er es ihr erzählen.
Sein ganzes Leben war vom Schiffsunglück geprägt. Nach dem Tod der Eltern hatten ihn Onkel und Tante aufgenommen. Sie fühlten sich verpflichtet. Sie hatten ihn schon nach wenigen Monaten in ein Internat abgeschoben, das sie aus der Erbschaft seiner Eltern finanzierten. Sie schickten ihn nach Berlin, weit genug entfernt von Hamburg.
Als er abends im Justus-Internat ankam, fühlte er sich fiebrig vor Angst. Er wurde gleich in den Schlafsaal geführt. Der Schlafsaal war sehr klein. Vierundzwanzig Eisenbetten waren in ihn hineingepfercht, auf jedem lag nur eine dünne Wolldecke und ein Kissen. Er erhielt das zwölfte Bett der Reihe rechts von der Tür. Das war seine Schlafstatt für die folgenden Jahre. Als am ersten Abend die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, als er hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde und ein Riegel einschnappte, war er zur Tür gelaufen, hatte geschrien und mit den Fäusten auf das Holz getrommelt.
Die Jungen lachten.
»Eine Memme!«, brüllte einer.
Die anderen warfen mit Kissen nach ihm. Dann öffnete sich die Tür zum Schlafsaal, die Nachtwache zerrte ihn aus dem Zimmer und sperrte ihn in eine fensterlose Einzelzelle. Die ganze Nacht hatte er sich die Seele aus dem Leib geschrien, bis er vor Heiserkeit keinen Ton mehr herausbekam. Dann hatte er gelernt, nachts heimlich in sein Kissen zu weinen, lautlos und verborgen. Die Nacht war für die Gefühle da, die man am Tag nicht zeigen durfte. Später waren auch die Tränen versiegt. Stattdessen onanierte er. Seine Albträume, seine Todesangst, konnte er damit nicht vertreiben. Immer wieder durchlebte er das Schiffsunglück. Mitten in der Nacht schrie er auf, was ihn wieder in den Karzer brachte. Der Karzer war nur acht bis zehn Fuß breit. Andreas Hartmann hatte den feuchten, angstschweißgetränkten Geruch des Verschlags in der Nase, spürte den Kalk, der sich beim Kratzen an den Wänden unter seinen Fingernägeln gesammelt hatte, die Blutergüsse, die sich beim Trommeln an die Tür an seinen Handkanten bildeten.
Lehrer Johannsen war das größte Ungeheuer. Er fand Vergnügen daran, die Jungen mit der Rute zu streichen. Er führte alle Bestrafungen der Anstalt aus. Für die kleinsten Vergehen gab es Rutenschläge, die so kraftvoll waren, dass Johannsen schwitzte, wenn er zuschlug. Er, Andreas, musste nicht nur einmal die Hosen herunterziehen, obwohl er sich nichts Nennenswertes zuschulden kommen ließ. Andreas Hartmann sah den Lehrer vor sich. Das schweißglänzende Gesicht mit
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