Die Insel der Witwen
den zu einem Lächeln verzogenen Lippen, die Lust zu quälen, die in seinen Augen aufblitzte. Noch heute wurde er von ihm in seinen Träumen misshandelt. Erst gestern hatte er wieder von ihm geträumt. Er wollte ihm davonrennen, aber seine Beine waren so schwer, als liefen sie durch Sirup.
Es gab niemandem im Internat, dem er sich hätte anvertrauen mögen. Er ertrug sein Leid. An manchen Tagen lastete es so schwer auf ihm, dass er sich in die dunkelsten Winkel des Schulgebäudes zurückgezogen hatte.
Er überstand das Internat durch Lernen. In seinen dicken Mantel gehüllt und dennoch vor Kälte zitternd saß er Tag für Tag in der Bibliothek und lernte seinem Ziel entgegen, Leuchttürme zu bauen. Alle hielten ihn für einen Streber. Aber das Lernen half ihm, seine Ängste im Zaum zu halten. So war es bis heute.
Er kapselte sich von dem Grauen, von der Kälte der Internatswelt ab, lernte dem Tag entgegen, an dem er von dort fortkommen würde. Er ertrug die Strenge, die Prügel und Geilheit der Lehrer, den Karzer, die Jungen, die wie er hier eingesperrt waren und ihre Verlassenheit und Verzweiflung in Gemeinheiten auslebten.
Einmal im Jahr, in den Sommerferien, holten ihn Onkel und Tante nach Hamburg. Sie versorgten ihn anständig. Er erhielt gute Mahlzeiten, aber ihre Herzen waren eiskalt. Jedes Mal, wenn sie ihn wieder in die Kutsche setzten, spürte er ihre Erleichterung über seine Abfahrt.
Dann kam die Universität. Das Lernen war ihm zur Besessenheit geworden. Auch als Student lebte er nur für sein Ziel, den Leuchtturmbau. Er verabscheute seine Kommilitonen, die ihre Studien vernachlässigten, die sich vergnügten, das Geld ihrer Eltern verprassten, indem sie tranken, hurten und spielten.
Nach wie vor verbrachte er den Sommer bei Onkel und Tante in Hamburg. Dort lernte er Almut kennen. Sie waren sich auf dem Geburtstag des Onkels begegnet. Sie war die Tochter des Pastors im Kirchspiel. Sie war schön, keine aufregende Schönheit. Sie war ein schlichtes, sanftes Wesen, das Güte ausstrahlte. Das hatte ihn angezogen. Sie erinnerte ihn an seine Mutter. Ja, sie hatte etwas Mütterliches an sich. Vom ersten Moment an strahlte sie Wärme und Geborgenheit aus. Er sehnte sich danach, von einer Frau umsorgt zu werden und verliebte sich in sie.
Seit er Almut geheiratet hatte, kam er sich weniger verloren vor, weil er nicht mehr allein war. Wenn er seine Angstzustände hatte, war Almut da, die ihn tröstete und stärkte. Ein Gedanke drang wie ein schriller Schmerz in ihn ein. Er hatte sie geheiratet, weil sie ihn liebte und umsorgte. Aber was war mit ihm? War das, was er ihr gegenüber empfand, Liebe? Liebe, Liebe. Manchen Morgen, nachdem sie das Bett geteilt hatten, war er lustlos aufgestanden, hatte nicht einmal genügend Elan verspürt, sich zu rasieren. Merkte Almut denn nicht, dass er litt? Wie sollte sie? Er selbst hatte es ja nicht einmal bemerkt. Er ließ sie ja in dem Glauben, dass er glücklich sei. Es war verzwickter. Er selbst glaubte, glücklich zu sein.
Und jetzt? Jetzt fühlte er sich von ihrer Güte und Mütterlichkeit vereinnahmt, erschlagen, unfrei, nein, es war schlimmer. Er schlug mit der Hand auf die Matratze. Sie war ihm …
Er hörte es klopfen.
»Ja, bitte?«
»Moin, darf ich eintreten?«
Andreas Hartmann fuhr sich über das zerzauste Haar. »Herr Lorenzen, kommen Sie rein.«
Er erhob sich, räumte den Hocker frei, auf dem er einige Bücher abgelegt hatte. Er war erleichtert, von seinen bitteren Gedanken befreit zu werden.
»Setzen Sie sich. Wie Sie sehen, kann ich Ihnen nicht viel Komfort bieten. Aber Grog und Butterbrote habe ich immer da.« Andreas Hartmann schürte das Feuer, setzte einen Kessel Wasser auf, kam zum Tisch zurück.
»Wissen Sie schon?«, fragte Lorenzen. »Von dem gestrandeten Schiff konnte nur ein Teil der Holzladung geborgen werden. Und was mit der Mannschaft passiert ist, weiß man auch noch nicht. Aber Nissen hat die Schiffspapiere gefunden. Die Magdalena war ein Bremer Schiff auf dem Weg nach England. Ein Kapitän Jürgens hatte es befehligt. Tja, nun ist er hin.«
Lorenzen blickte auf den Tisch. »Das ist der Bauplan, nicht wahr?«
»Ja, ich gehe immer wieder alles durch.«
Lorenzen sah das Foto auf der Fensterbank. »Ihre Familie?«
»Ja«, murmelte er, »meine Frau Almut und meine Kinder Hannes und Jule.«
»Ihre Frau ist sehr schön.« Der Kapitän seufzte. »Meine Frau war auch bildhübsch. Ich habe früher viele Reisen mit ihr zusammen gemacht.
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