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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Fohl
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würde ich den Verstand verlieren und nicht mehr wissen, was ich gerade tue. Ich habe es gerade noch abwenden können. Aber es gelingt mir nicht immer.«
     
    »Ich habe ständig Albträume«, sagte Andreas Hartmann. »Manchmal habe ich solche Angst, dass ich glaube, kurz vor dem Wahnsinnigwerden zu sein.«
    »Was ist Ihnen passiert?«
    »Wir kamen aus London zurück und wollten Hamburg anlaufen. Anfangs war die See noch ruhig. Vor den ostfriesischen Inseln gerieten wir in einen Sturm. Von allen Seiten brausten heftige Böen heran, hohe Flutwellen nahmen die Sicht. Plötzlich krachte es. Mehrere heftige Stöße erschütterten das Schiff. Der Kapitän ließ sofort Leuchtraketen abschießen und ein Feuer in einem Fass entfachen. Das Wasser hatte sich bereits aus den unteren Schiffsräumen nach oben gedrängt. Es gelang nicht, die Rettungsboote auszusetzen. Fünf Passagiere waren schon über Bord gegangen. Die Wellen hatten sie mitgerissen. Ich stand mit meinen Eltern abseits der Reling. Wir klammerten uns an einen der Masten. Die Wellen schlugen immer heftiger über Deck. Der Kapitän befahl, dass wir in die Masten und Rahen klettern sollten. Es blieb uns keine Wahl. Meine Mutter weigerte sich. Sie zog ihre Bibel aus der Manteltasche. Dabei wäre sie fast über Bord gegangen. Ich entriss ihr die Bibel, warf das Buch über Bord und zwang sie, in die Takelage zu klettern. Wir gelangten irgendwie hinauf.« Andreas Hartmann stockte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Kaum hingen wir in der Luft, brach der Rumpf auseinander. Das Knarren und Krachen, die Schreie. Ich werde diese Geräusche nie vergessen.«
     
    Er schluckte trocken. »Wir hielten uns in der Takelage. Es war bitterkalt. An die dreißig Menschen hingen in den Tampen. Sie weinten und schrien. Meine Mutter schrie nicht. Sie sagte: ›Leb wohl, Andreas‹, ließ sich fallen und stürzte ins Meer. Vater hielt sich ein paar Stunden länger. Er hatte vor Schmerz und Angst den Verstand verloren. ›Land in Sicht! Land in Sicht!‹, rief er die ganze Zeit. Plötzlich fiel auch er hinab. Ich hörte ihn noch eine Weile schreien, dann verschlang das Meer auch ihn.«
     
    Andreas Hartmann griff nach dem Grog, trank. »Die Nacht brach herein. Zunächst schien der Mond und gab etwas Licht. Dann verschwand er hinter den Wolken. Meine Hände, mein ganzer Körper war gefühllos geworden. Die Erschöpfung raubte mir die Sinne. Ich wusste nicht, wie ich mich im Tauwerk hielt. Ich wusste nicht, wie viele bereits hinuntergefallen waren. Ich weiß nur, wie mir auf einmal ganz warm wurde bei dem Gedanken, mich auch einfach hinabgleiten zu lassen. Ich hätte es wahrscheinlich getan, wenn nicht eine Welle mir die Gischt ins Gesicht geschlagen hätte. Die Ohrfeige riss mich aus meinem Todesdämmer. Und eine Stimme rief: ›Du wirst überleben, du wirst das Meer besiegen, du wirst Leuchttürme bauen!‹«
    Andreas Hartmann fuhr sich durchs Haar. »Zehn Menschen haben das Unglück überlebt. Darunter war ich.« Er schaute Lorenzen an. »Ich wüsste nicht, wie ich ohne meine Leuchttürme zurechtkäme. Ich muss Leuchttürme bauen.«
     
    H
     
    Johanna Busch, Schwiegermutter des Andreas Hartmann:
     
    Als unser Schwiegersohn bei uns zu Besuch war, hat mich eine Freundin auf den fürchterlich düsteren Zug in seinen Augen aufmerksam gemacht. Ich sagte ihr, dass er erschöpft sei und sicher bald wieder zu Kräften käme. Und dass er immer sehr schlecht schliefe. Sie gab nicht nach. Sie zog mich beiseite und flüsterte: Nie habe ich einen solchen Blick gesehen. Er ist mir unheimlich.
     
    H
     
    Keike breitete den Baumwollballen auf dem Küchentisch aus. Sie hatte ihn im Winter am Strand gefunden und aufbewahrt. Es war höchste Zeit. Sie musste den Mädchen neue Kleider nähen. Sie waren aus den alten herausgewachsen. Außerdem ließ sich der Stoff nicht mehr flicken, immer wieder riss er ein. Sie nahm die Schere zur Hand und überlegte, wie sie zuschneiden sollte, ohne Stoff zu verschenken. Plötzlich hörte sie Hundegebell. Sie blickte hinaus. Das Blut stieg ihr zu Kopfe. Stecknadeln stachen in ihre Haut. Knudt Nissen. Er schlich in Stines Garten herum. Er trug seinen Sonntagsrock. Seine Stiefel waren blank geputzt. Und die ausgebeulte Wollmütze, die er tagtäglich trug, hatte er gegen eine feine Schirmmütze ausgetauscht. Er marschierte auf die Haustür zu, sein Hund im Gefolge.
     
    »Marret, Göntje, schnell, räumt den Stoff unter die Dielen. Auch das Garn. Der Strandvogt.

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