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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Fohl
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und nachsichtig sein. Doch lass Dir gesagt sein: Die Kinder und ich, auch die Freunde, denken oft an Dich und vermissen Dich sehr. Gott beschütze Dich, Lieber.
    Ich will Dir ein wenig von uns erzählen. Die Kinder sind wohlauf. Jule geht jetzt zu Frau Hansen zum Sticken. Hannes kommt ganz nach Dir. Stell Dir vor, er hat ein Luftschiff gebaut. Er hat es auf einer Abbildung gesehen und nachgebaut. Er ist ganz stolz darauf und kann es gar nicht abwarten, es Dir zu zeigen.
    Und ich? Ich suche, soviel ich kann, die Gesellschaft mit geistlicher Erbauung zu unterhalten. Gestern Abend hatten die Damen und ich Bibelstunde. Frau Hansen lässt Dich vielmals grüßen. Ach, und das Fräulein Vogt heiratet am nächsten Freitag den jungen Prediger, den Du noch vor Deiner Abreise kennengelernt hast.
    Gestern bin ich mit Hannes am Hafen gewesen. Er wollte unbedingt Schiffe anschauen. Du weißt, dass ich mich immer ein wenig vor der rauen Welt dort an den Kais fürchte und lieber wäre mir gewesen, Du hättest diesen Spaziergang mit ihm gemacht. Aber Hannes ließ sich nicht vertrösten. Und Friedrich hatte zu viel in der Fabrik zu tun. Also ging ich mit ihm. Jule ließ ich bei den Hennings. Ihre Tochter, die kleine Johanna, ist zurzeit ihre liebste Freundin.
    Am Hafen wurde gerade ein Auswandererschiff beladen. Hannes war ganz aufgeregt und wollte alles genau ansehen. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie viele Menschen nach Amerika gehen. Es sollen über fünfzigtausend jährlich sein, die von Hamburg aus reisen. Hunderte von Menschen saßen auf ihren Kisten und Bündeln und warteten auf das Einschiffen. Viele Frauen säugten ihre Kinder, die Männer liefen unruhig hierhin und dorthin. Dazwischen Händler und Makler. Ein unglaublicher Tumult.
    Fast alle Menschen waren ärmlich gekleidet. Die meisten werden wohl durch äußerste Not zum Auswandern getrieben. Man muss sehr verzweifelt sein, um diesen Schritt ins Ungewisse zu wagen. Denk nur an die Indianer, und vor Kurzem war noch Bürgerkrieg in Amerika. Und viele sterben bei der Überfahrt. Es sollen schlimme Zustände auf den Schiffen herrschen. Friedrich sagt, die Reeder lehnen Verbesserungen ab, da die Auswanderer eine möglichst billige Passage, und nicht Bequemlichkeit suchten.
    Hannes wollte immer näher an das Schiff heran. Er wäre am liebsten mitgefahren. »Ich will auch nach Amerika«, rief er. Mir wurde ganz schwindelig bei dem Gedanken. Aber da wir, Gott sei es gedankt, unser Auskommen haben und Du niemals eine solche Schiffsreise machen würdest, wiege ich mich in Sicherheit, in Hamburg bleiben zu können.
    Als ich die vielen Menschen ihre Heimat verlassen sah, fühlte ich mich sehr einsam. Wann wirst Du wiederkommen? Wirst Du zu Jules Geburtstag zu Hause sein?
    Ich habe ein neues Gebetbuch angelegt. Jeden Abend schreibe ich einen kleinen Vers hinein, der Dich erreichen und Dir Kraft geben soll, Deine Aufgabe auf dieser unwirtlichen Insel zu bewältigen.
    Wachet, steht im Glauben, seid mutig und stark!
    Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen!
    Gott sei mit Dir, Andreas, Du vollbringst ein christliches Werk. Du bringst den Menschen Rettung in der Not und Licht in der Finsternis. Ich will deshalb nicht klagen.
    Lieber Gott, ich bete, dass wir alle gesund und wohlauf bleiben.
    Herzensgrüße von den Deinigen zu Hause
    Die Deinige Almut
     
    Andreas Hartmann ließ den Brief sinken. Graue Leere umgab ihn. Er hatte jahrelang in einem Halbschlaf gelebt, in leidenschaftsloser Einöde und Biederkeit. Er hatte nur geglaubt, Almut zu lieben. Jahrelang war er zu feige gewesen, seine Lebenslüge aufzudecken. Blind wie ein Maulwurf hatte er sich selbst hintergangen. Er war selbst schuld. Er hätte es wissen können. Schon als er Almut den ersten Kuss gab. Es war ein Kuss auf harte, gepresste Lippen gewesen. Damals schrieb er es ihrer Schüchternheit zu. Aber Almut blieb ihm verschlossen, auch, wenn er mit ihr das Bett teilte, auch, wenn er Kinder mit ihr gezeugt hatte. Er hatte sich selbst eine Fessel umgelegt, jahrelange Keuschheit und Unlust auf sich genommen. In seinem Kopf dröhnte es. Jetzt, jetzt war er erwacht. Jetzt hatte der Sturm ihm die Maske vom Gesicht gerissen, die Rüstung, in der er steckte, vom Leib gefetzt. Er war sich selbst begegnet, nackt und schutzlos. Musste er auf diese Insel kommen, um das zu erkennen? Je klarer er seine Lebenslüge spürte, desto mehr Widerwillen empfand er vor Almut. Sein Verlangen nach Keike wurde immer stärker. Er sehnte sich nach

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