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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Fohl
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nach seiner Einlieferung war Andreas Hartmann erregt. Das anfängliche Schweigen hatte er aufgegeben. Er sprach mit sich selbst, hauptsächlich nachts, und fluchte auf ein Frauenzimmer, das er die Ursache seines Unglücks nannte. Gefragt, weshalb er im Irrenhause sei, antwortete er: Diese Hure hat Schuld, dass ich hier bin. Er behauptete, sich an ein Verbrechen nicht zu erinnern. Wenn er sprach, schüttelte er den Kopf und alle Gesichtsmuskeln gerieten in Bewegung. Schließlich wurde er ruhig und bat, dass man ihm die Zwangsjacke abnehmen möchte, und er versprach, sich gut zu führen.
    Jetzt schritt ich zu einer eingehenden Untersuchung des Kranken, die folgendes Resultat ergab:
     
    Physische Funktionen
     
    Allgemeiner Befund: kräftiger Knochenbau, Haar grau; hohe Stirn mit Längs-und Querfurchen. Die Ohren gut gewachsen, aber leicht henkelförmig, Gegenleisten kaum vorhanden, mit Spuren des Darwinschen Höckers. Die Augen in gleicher Höhe, im linken Auge eine Nickhaut, Conjunktiva normal. Augenbrauen normal, rechts stärker geschwungen als links. Das Wangenjochbein tritt wenig hervor, der Gesichtsausdruck ist schlaff und welk. Am Daumen der linken Hand eine Narbe, die von einem schneidenden Werkzeug herrührt, ebenso eine in der Leistendrüsengegend.
    Kurzer Hals – breite Brust, die interkostalen Zwischenräume wenig sichtbar. – Ausatmung auf beiden Seiten der Brust gleichmäßig – Anzahl der Atmungen siebzehn in der Minute. Bei Perkussion und Auskultation der Brust ist weder vor noch nach der Atmung etwas Abnormales zu bemerken.
    Blutumlauf: Herzdämpfung von normaler Größe – Herztöne rein – regelmäßiger und kräftiger Pulsschlag – normale Funktion der Arterien.
    Verdauungsapparat: Zunge belegt – Stuhlgang regelmäßig. – Bauch weich und unempfindlich gegen Druck.
    Geschlechtsapparat: Geschlechtsorgane normal – große Hoden. Die Untersuchung des Urins ergibt folgendes Resultat: strohgelbe Farbe – saure Reaktion – Eiweiß und Zucker nicht vorhanden – kohlensaure Salze in geringer Menge – alkalische und erdige Phosphate in normaler Menge – Chloride ziemlich selten. – Bei mikroskopischer Untersuchung erscheinen keine organischen Gebilde.
    Leberdämpfung von normalem Umfang, indolent.
    Milzdämpfung normal.
    Wärmeerzeugung normal.
    Die physischen Untersuchungen konnten nicht zu Ende geführt werden. Der Patient, der bis dahin alles willig über sich ergehen ließ, weigerte sich, die Zunge zu zeigen. Beim Versuch, die Zunge zum Vorschein zu bringen, presste ich den in einem Zustand des Grinsens erstarrten Mund mit Daumen und Zeigefinger zusammen. Daraufhin schlug der Patient um sich. Er wurde tobsüchtig, brach mir das Nasenbein, griff die Wärter an, trat sie mit der ungezügelten Kraft eines Irren und zertrümmerte Mobiliar. Es hatte einige Mühe gekostet, den Rasenden wieder unter Kontrolle zu bekommen.
    Er wurde zur Ruhigstellung in die Dunkelzelle gebracht.
     

3
    Über die Insel zog sich ein violettes Blütenmeer. Kopf an Kopf standen die Heidesträucher. Sie bildeten sanfte Wellentäler, umrahmt oder durchbrochen von Gras und Dünenrosen, die erste, rot leuchtende Hagebutten trugen. Keike wartete im Schatten einer Düne. Ein sanfter, warmer Wind umspielte ihr Gesicht. Er wehte eine Wolke Blütenduft an ihre Nase, gepaart mit dem rauchigen Aroma des Dünensandes und der Würze getrockneten Seetangs. Keike lauschte dem hell-knisternden Rascheln des Dünengrases. Sie pflückte einen Halm, führte ihn zum Mund, klemmte ihn zwischen die Zähne, kaute ein wenig, genoss das Kitzeln und den würzigen Geschmack auf der Zunge.
    Das Meer sang ein beschwingtes Sommerlied. Die seichten Wellen klangen hell wie Taft, flossen in sanften Bahnen, fast faltenlos ans Ufer.
    Sie sah Andreas kommen.
    Die Sonne stülpte ihre Glut über ihn. Sie sengte auf seinen Kopf, brannte auf seinen Körper. Er nahm sein Schnupftuch, machte vier Knoten an den Ecken und legte es über seinen Kopf. Kein Schnupftuch könnte ihn vor der inneren Glut bewahren, die in ihm explodiert war, dachte er. Er wollte genießen, lieben, bis er umfiele. Das Leben bedeutete doch nichts anderes, als zu lieben. Ohne Liebe war es nichtig. Er winkte Keike.
    Der Wind schickte seinen Duft voraus. Keike sog ihn auf.
    Sie legte ihre Haube beiseite, entflocht ihr Haar.
    Sie lagen im Schatten. Ganz still, ihre Körper in Liebe gebadet, von einem feinen Sandfilm bedeckt. Strandfliegen umsurrten sie, setzten sich auf ihre feuchte Haut.

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