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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Fohl
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Jahr sterben Tausende im Zwischendeck. Die Schiffe der Sloman-Linie sind die schlimmsten. Sie ähneln Sklaventransportern. Ins Zuchthaus gehören diese geldgierigen Reeder. Man muss ihnen das Handwerk legen.«
    »Warum bist du Kapitän der HAPAG geworden?«
    Lorenzen rieb sich die Nase. »Es hat sich halt ergeben.«
    Eine Weile gingen sie wortlos nebeneinander her, Wind-und Meergeräusche in den Ohren, ab und an das Knacken einer Muschelschale. Lorenzen blickte zum Horizont.
    »Damals, als unser Ältester auf See verunglückte, flehte meine Frau mich an, die Seefahrt aufzugeben. Ich bereue bis heute, dass ich nicht auf sie gehört habe. Dann hätte ich nicht bei der HAPAG angefangen, und das alles wäre nicht passiert.« Er blieb stehen und stierte Andreas Hartmann in die Augen. »Ich hätte es zu Hause nicht ausgehalten.«
    »Hast du noch Familie auf der Insel?«
    »Nein. Sie sind alle tot. Krankheit, Unglück, Kindbettfieber, Altersschwäche. Aber der Nanning lebt noch.« Lorenzens Augen nahmen einen eigentümlichen Glanz an. Seine Stimme begann sich zu überschlagen. Die Sätze flatterten. »Der Nanning, der ist nach Amerika ausgewandert. Er ist nicht seetauglich. Bei jedem Gang in die Takelage ist ihm schwindlig geworden. Der Nanning ist ein braver Junge. Hat sich in Amerika hochgearbeitet. Ist einer der wenigen, die es zu etwas gebracht haben. Er ist ein aufgeweckter Bursche. Weißt du, er hat einen kleinen Laden in New York. Delikatessen vom Feinsten, alles vom Feinsten.« Lorenzen lachte laut. Dann erstarb das Lachen. Sein Mundwinkel verzog sich, seine Augen blickten verloren. »Er schreibt nicht mehr. Seit dem Unglück.« Der Kapitän beschleunigte seine Schritte. Eine unsichtbare Energie ließ den alten Mann voranstürmen. Andreas Hartmann hatte Mühe zu folgen. Er rang nach Atem.
    Sie erreichten das Ufer der Südspitze. Lorenzen blieb abrupt stehen.
    »Da sind wir. Das Wetter hat sich ja prächtig gehalten.« Wieder brach ein zerhacktes Gelächter aus ihm heraus. Ohne sich zu verabschieden, drehte er sich um und eilte die Inselstraße entlang, einen langen Schatten hinter sich herschleifend.
     
    H
     
    Die Insel hatte sich wieder in ihr graues Kleid gehüllt. Andreas Hartmann streifte auf dem Eiland umher. Seine Unrast war ihm unerträglich. Zuerst lief er auf der Wattseite. Selbst die stille Seite der Insel brachte ihm keine Ruhe, sondern drückte ihn nieder. Auf den schwarzgrünen Wiesen weideten träge Kühe. Auch ein paar Ackergäule standen herum. Sie hatten ihre Hinterteile zum Wind gedreht, um ihm möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Ihre Schweife lagen eng am Körper an. Auf den Wiesen hatten sich kleine Tümpel gebildet, auf deren grauer Oberfläche sich die Grasbüschel als schwarze Schatten abzeichneten. Einige Krähen hüpften auf der Wiese herum, pickten in das verfilzte Grün. Er blickte auf die Wasserseite. Kleine Wellen schwappten bleiern am Wassersaum. Das Meer war grau, das Watt, das sich davor erstreckte, ein schwarzgrauer düsterer Schlamm. Auch die Wolken, die die Sonne einkerkerten, waren schlammig grau und klebten schwer wie feuchter Ton am Himmel. Das eintönige Rauschen des Windes marterte seine Ohren. Seine Gedanken verdüsterten sich mehr und mehr. Seit Tagen stand ein dunkler Himmel über dem Meer. Er hätte weinen können über das ewige Grau in Grau.
    Eine Gruppe von Austernfischern rastete am Wattenrand. Wie in einem von Menschenhand geformten Muster saßen die Vögel auf dem Grau, reglos ruhend, ihre Köpfe gegen den Wind gerichtet, damit ihre Federkleider nicht zerzausten. Andreas Hartmann beneidete die Vögel um ihre Ruhe, um ihr geordnetes Gefieder. Seine Haut war ungeschützt, rau und mit Narben bedeckt. Er schritt voran, ohne Ziel, ohne Schutz, ohne Muße. Jäh flog die Vogelschar auf. Ihr schrilles Gepiepse hörte sich an, als würde jemand Eisen sägen. Blindlings machte er kehrt, lief quer über die Insel, um auf kürzestem Weg an die Seeseite zu gelangen, um die Brandung zu hören, um Frische zu spüren.
    Es war bereits früher Nachmittag. Er war sehr durstig. Seine Lippen waren aufgesprungen und vertrocknet. Die Knie und die Füße schmerzten vom vielen Laufen. Dennoch konnte er nicht stehen bleiben oder gar auf die Baustelle zurückkehren. Er näherte sich den Dünen. Das Meer klang von Ferne wie herabstürzendes Steingeröll. Er trat in eine Mulde voller Kaninchenkot. Mühsam erklomm er Düne für Düne, hatte nur noch die niedrigen, dem Meer vorgelagerten

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