Die Insel der Witwen
eine Eisentür von dem Querflügel getrennt. Dort befanden sich die sieben Krankensäle für die Irren. Die Fenster der Räume waren zur Erhaltung der Scheiben durch Eisengitter gesichert. Stieg man die Treppe hinunter, kam man in den Kellerraum, wo mehrere Behältnisse für die Tobsüchtigen und für die stets verunreinigten Wahnsinnigen zur Verfügung standen. Diese Behältnisse waren teils mit Dielen, teils mit Fliesen ausgestattet und so eingerichtet, dass bei ihrer Reinigung das Wasser und die Exkremente von selbst durch ein unterirdisches Siel abflossen. In den Irrenkellern lagen die unreinlichen Kranken, die zugleich keine Bekleidung duldeten, auf Stroh. Mit diesem wurden die Bettstellen hinreichend gefüllt und täglich erneuert.
Eine Vorrichtung für Tropf-, Sturz-und Regenbäder, die sich in einem hölzernen Kasten befand, machte es möglich, das Wasser in jeder beliebigen Entfernung und in gewünschter Menge auf den Irren herabstürzen zu lassen, ohne dass die Wärter Gefahr liefen, angegriffen zu werden.
Die oft nötigen Zwangsmittel wie Zwangsstuhl, Sack, Zwangsjacken, Leib-und Fußriemen befanden sich in der Verwahrung des Oberkrankenwärters. Bei akuten Tobsuchtsanfällen stand zur Absonderung eine dunkle Koje zur Verfügung.
H
Wie ein Besessener schritt Andreas Hartmann in seiner Baracke umher. Tagelang hatte er mit sich gekämpft, ob er wieder in die Dünen gehen sollte. Er hatte den Kampf verloren. Wann immer es möglich war, trugen ihn seine Füße zu Keike. Wie lange konnte man ein Liebesnest auf einer Insel geheim halten? Überall lauerten neugierige Schatten im Hinterhalt. Überall saßen die Menschen hinter ihren Gardinen und gafften, lüstern nach neuen Geschichten, Begebenheiten, die sie erzählen konnten. Es musste aufhören. Er durfte sie nicht mehr treffen.
Aus und Schluss, dachte er. Gleichzeitig liebte er Keike umso mehr, weil sie die Gefahr auf sich nahm, mit ihm zusammen zu sein. Keike hatte sein Herz getroffen. Es brannte wie eine Fackel. Damit Fackeln leuchten, musste man gegen den Wind angehen. Sonst schlug der Wind die fliehenden Feuer an den Fackelrändern zusammen und erstickte die Flammen. Er war zuvor noch nie gegen den Wind gerannt. Sein ganzes Leben lang hatte er sich brav und rechtschaffen verhalten. Er hatte die Liebe, solch ein Glück noch nie erlebt. Er wünschte sich, dass Keike ihm die nie zu stillende Glut von den Lippen küsste. Jetzt und wann immer es möglich war. Andreas Hartmann resignierte. Ihm wurde bewusst, dass er jede Gefahr in Kauf nehmen würde, sie wieder zu treffen. Plötzlich hatte er Keike mit einem lodernden Feuerkranz auf dem Kopf vor Augen. Sie zog ihn zu Boden, und er glühte vor Verlangen nach ihr. Er wunderte sich über diese Fantasie. Gleichzeitig konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dieses Bild schon einmal gesehen zu haben.
Er hatte sich verliebt, hier auf der Insel. Mehr als das. Er war noch nie so verliebt gewesen. In seinem ganzen Leben nicht. Es war nicht nur ein körperliches Verlangen, es war nicht nur eine Herzensliebe, es war, als ob Herz, Seele und Blut sich zusammengefunden hatten und ihm den Boden unter den Füßen wegrissen. Sein Verstand sagte, dass diese Liebe nicht sein durfte. Er war ein verheirateter Mann und Familienvater. Dennoch fühlte er sich machtlos gegenüber dem, was er empfand. Er konnte an nichts anderes mehr denken als an Keike. Er traf sich mit ihr in den Dünen, in der Heide, in einem verfallenen Haus, sie liebten sich, wo immer sie unentdeckt blieben. Er verging vor Sehnsucht nach ihr, schon wenn er sie einen Tag nicht gesehen, gesprochen, berührt hatte. Sie liebkoste ihn, wie er es noch nie erfahren hatte, und wenn sie miteinander sprachen, hörte sie ihm lange zu, ohne ihn zu unterbrechen, ohne zu ermahnen, wie er es von Almut gewohnt war. Manchmal erzählte sie ihm eine Geschichte, eine Sage. Ihre Welten prallten aufeinander. Und dennoch gab es ein tiefes Einverständnis zwischen ihnen. Ihre Seelen, ihre Leidenschaften waren wie Zwillinge. Aber das durfte alles nicht sein. Er gefährdete Keike und er betrog seine Frau, die ihm eine treue Gattin war.
Almuts Brief lag auf dem Tisch. Er fürchtete sich, ihn zu lesen. Tagelang hatte er es bereits aufgeschoben. Mit friedlosen Händen öffnete er das Kuvert.
Lieber Andreas,
Schon lange sehne ich mich nach ein paar Zeilen von Dir. Aber wie aus Deinem ersten Brief hervorgeht, plagen Dich große Probleme auf der Insel. So will ich geduldig
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