Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel des Dr. Moreau

Die Insel des Dr. Moreau

Titel: Die Insel des Dr. Moreau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. G. Wells
Vom Netzwerk:
»Ich hatte den Eindruck, als verdecke sein Haar die Ohren.«
    »Ich sah sie, als er sich neben mir bückte, um den Kaffee auf den Tisch zu stellen, den Sie mir schickten. Und seine Augen leuchten im Dunkeln.«
    Mittlerweile hatte Montgomery sich von der Überrumpelung durch meine Frage erholt. »Ich habe mir doch immer gedacht«, sagte er überlegt, und sein Lispeln verstärkte sich, »daß etwas mit seinen Ohren ist. Nach der Art, wie er sie verdeckt hält ... Wie sahen sie aus?«
    Ich war überzeugt, daß seine Unwissenheit gespielt war. Und doch konnte ich dem Mann nicht gut sagen, daß ich ihn für einen Lügner hielt. »Spitz«, sagte ich, »ziemlich klein und pelzig - ausgesprochen pelzig. Aber der ganze Mann ist eines der seltsamsten Wesen, die mir je vor Augen gekommen sind.«
    Ein scharfer, heiserer Schrei tierischen Schmerzes drang aus dem Hof hinter uns. Der tiefe Klang und die Lautstärke ließen auf den Puma schließen. Ich sah Montgomery zusammenzucken.
    »Ja?« sagte er.
    »Wo haben Sie das Geschöpf aufgelesen?«
    »Äh - San Francisco ... Es ist eine häßliche Kreatur, das gebe ich zu. Mit halbem Verstand, wissen Sie. Kann sich nicht besinnen, wo er hergekommen ist. Aber ich bin an ihn gewöhnt, wissen Sie. Wir beide. Was für einen Eindruck macht er auf Sie?«
    »Er ist unnatürlich«, sagte ich. »Er hat etwas ... Halten Sie mich nicht für albern, aber ich habe ein unangenehmes Gefühl, alles zieht sich in mir zusammen, wenn er mir nahe kommt. Es ist etwas ... kurz, er hat etwas Teuflisches.«
    Montgomery hatte mit dem Essen aufgehört. »Komisch«, sagte er. »Das kann ich nicht finden.«
    Er begann wieder zu essen. »Ich hatte keine Ahnung davon«, sagte er kauend. »Die Mannschaft auf dem Schoner ... muß auch so empfunden haben ... Setzten dem armen Teufel ganz schön zu ... Haben Sie den Kapitän gesehen?«
    Plötzlich heulte der Puma wieder, diesmal schmerzlicher. Montgomery fluchte leise. Es reizte mich, ihn wegen der Leute am Strande zu befragen. Dann stieß das arme Tier drinnen eine Reihe kurzer, scharfer Schreie aus.
    »Ihre Leute am Strande«, sagte ich, »was für eine Rasse ist das?«
    »Ausgezeichnete Kerle, nicht wahr?« erwiderte Montgomery abwesend und runzelte die Stirn, als das Tier scharf aufschrie. Ich sagte nichts mehr. Es folgte ein weiterer Schrei, schlimmer als der vorige. Montgomery sah mich mit seinen stumpfen grauen Augen an und trank noch etwas Whisky. Er versuchte mich in eine Diskussion über den Alkohol zu ziehen und beteuerte, er habe mir damit das Leben gerettet. Er schien Gewicht darauflegen zu wollen, daß ich ihm mein Leben verdankte. Ich antwortete ihm zerstreut. Dann war unser Mahl zu Ende, und das ungestalte Monstrum mit den spitzen Ohren räumte ab. Montgomery ließ mich wieder allein im Zimmer. Er war die ganze Zeit in einem Zustand kaum unterdrückter Gereiztheit wegen des Geheuls des vivisezierten Pumas. Er sprach von seinen schwachen Nerven und überließ die auf der Hand liegende Erklärung für diesen Zustand mir.
    Ich fand selber, daß die Schreie an die Nerven gingen, und sie nahmen an Tiefe und Intensität zu, als der Nachmittag vorrückte. Ihre beständige Wiederholung brachte mich schließlich aus dem Gleichgewicht. Ich warf eine Horaz-Übersetzung, in der ich gelesen hatte, hin und begann, die Fäuste zu ballen, mir auf die Lippen zu beißen und im Zimmer hin und her zu gehen. Dann hielt ich mir die Ohren zu.
    Die aufwühlende Wirkung dieser Schreie wuchs beständig, sie wurden schließlich zu einem so vollendeten Ausdruck des Leidens, daß ich es in dem geschlossenen Raum nicht mehr aushielt. Ich trat aus der Tür in die schläfrige Hitze des Spätnachmittags hinaus, ging am Haupteingang vorbei - der, wie ich sah, wieder verschlossen war - und bog um die Mauerecke.
    Das Schreien klang draußen noch lauter. Es war, als hätte aller Schmerz der Welt eine Stimme gefunden. Und doch - hätte ich gewußt, daß im Nebenzimmer solcher Schmerz zugefügt wurde, und wäre er stumm ertragen worden, ich glaube - das geht mir seither immer wieder durch den Kopf -, ich hätte es ganz gut aushalten können. Erst wenn das Leiden Ausdruck findet und unsere Nerven erbeben macht, quält uns das Mitleid. Aber trotz des hellen Sonnenscheins und der grünen Fächer der Bäume, die sich in der kühlenden Seebrise wiegten, schien mir die Welt eine Wirrsal zu sein, bevölkert mit schwarzen und roten Phantasmen, bis ich außer Hörweite des Hauses und der bunten Mauer

Weitere Kostenlose Bücher