Die Insel des Dr. Moreau
ich mit Entsetzen zwei stämmige Beine zwischen den Bäumen, die mit geräuschlosen Schritten parallel zu meinem Weg gingen. Kopf und Oberleib waren hinter einem Gewirr von Schlingpflanzen verborgen. Ich blieb unvermittelt stehen. Die Füße ebenfalls. Ich hatte solche Angst, daß ich den Impuls zu jäher Flucht nur mit größter Mühe beherrschte.
Dann blickte ich scharf hin und erkannte durch das verschlungene Netzwerk Kopf und Rumpf der Kreatur, die ich hatte trinken sehen. Das Wesen bewegte den Kopf. In seinen Augen blitzte es smaragden, als es mich aus dem Schatten der Bäume heraus ansah, ein Aufleuchten, das verschwand, als es den Kopf wieder wandte. Es stand einen Moment regungslos, und dann begann es leichtfüßig durch die grüne Wildnis zu laufen. Im nächsten Moment war es im Gebüsch verschwunden. Ich konnte es nicht sehen, aber ich spürte, daß es stehengeblieben war und mich wieder beobachtete.
Was um alles in der Welt war das - Mensch oder Tier? Was wollte es von mir? Ich hatte keine Waffe, nicht einmal einen Stock. Flucht wäre Wahnsinn gewesen. Immerhin fehlte dem Wesen der Mut, mich anzugreifen. Ich biß die Zähne zusammen und ging geradewegs darauf zu. Ich wollte die Furcht nicht zeigen, die mir das Rückgrat lähmte. Ich zwängte mich durch ein Dickicht großer, weißblütiger Büsche und sah das Ungeheuer zwanzig Meter dahinter; es blickte mich über die Schulter an und zögerte. Ich ging einen oder zwei Schritte weiter und sah ihm fest in die Augen.
»Wer bist du?« fragte ich. Es versuchte, meinem Blick zu begegnen.
»Nein!« sagte es plötzlich, wandte sich und sprang von mir fort ins Unterholz. Dann wandte es sich von neuem und starrte mich an. Seine Augen glänzten hell aus der Dämmerung unter den Bäumen.
Mir klopfte das Herz im Halse, aber ich fühlte, daß meine einzige Chance die Flucht nach vorne war, und ich ging unverwandt auf das Wesen zu. Es wandte sich wieder und verschwand im dunklen Gesträuch. Noch einmal meinte ich, das Glitzern seiner Augen zu erkennen. Doch dann konnte ich nichts mehr sehen.
Zum erstenmal wurde mir klar, welche Folgen die späte Stunde für mich haben konnte. Die Sonne war schon seit einigen Minuten untergegangen, die schnelle Dämmerung der Tropen verblich am östlichen Himmel, und ein erster Nachtfalter flatterte mir still am Kopf vorbei. Wollte ich nicht die Nacht inmitten der unbekannten Gefahren des geheimnisvollen Waldes verbringen, so mußte ich zur Ummauerung zurückeilen.
Der Gedanke an eine Rückkehr an diesen schmerzerfüllten Zufluchtsort war mir äußerst zuwider, aber noch unangenehmer war die Vorstellung, im Freien von der Dunkelheit überrascht zu werden und von allem, was dieses Dunkel verbergen mochte. Ich warf noch einen Blick in die blauen Schatten, die dieses merkwürdige Geschöpf verschlungen hatten, und suchte dann den Weg hinunter zum Bach zurück, wobei ich, meiner Meinung nach, die Richtung einschlug, aus der ich gekommen war.
Ich strebte, von all diesen Dingen beunruhigt, ungeduldig vorwärts und befand mich plötzlich auf einem ebenen Platz unter zersplitterten Bäumen. Die farblose Klarheit, die der Sonnenuntergangsröte folgte, wurde dunkler. Der blaue Himmel färbte sich intensiver, und die kleinen Sterne erschienen einer nach dem anderen; die Zwischenräume zwischen den Bäumen, die Lücken im Busch, die im blauen Tageslicht nebelblau gewesen waren, wurden schwarz und geheimnisvoll.
Ich eilte weiter. Jede Farbe verlosch. Die Baumwipfel hoben sich tintenschwarz von dem leuchtendblauen Himmel ab, und alles, was sich darunter befand, verschmolz in gestaltlosem Dunkel. Dann wurden die Bäume spärlicher, das strauchige Unterholz üppiger. Schließlich kam ich auf eine einsame Lichtung, die mit weißem Sand bedeckt war, und dann folgte wieder eine Strecke verwachsenen Buschwerks.
Ich erschrak vor einem leisen Rascheln zu meiner Rechten. Erst dachte ich, es sei Einbildung, denn sooft ich still stand, war alles ruhig, nur die Abendbrise strich durch die Baumwipfel. Wenn ich dann wieder weiterging, folgte meinen Schritten etwas wie ein Echo.
Ich zog mich vom Dickicht zurück, hielt mich auf offenem Grund und versuchte hin und wieder dieses Wesen, wenn es existierte, durch plötzliche Wendungen zu überraschen, sobald es an mich heranschlich. Ich sah nichts, und trotzdem wuchs das Gefühl, daß noch jemand da war, beständig. Ich ging schneller und kam nach einiger Zeit zu einem sanften Hügelrücken; ich überschritt
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