Die Insel des Dr. Moreau
war.
9
Unheimliche
Begegnungen
Ich wanderte durch das Gestrüpp, das den Hügel hinter dem Hause bedeckte, und achtete kaum darauf, wohin ich ging. Ich kam durch den Schatten dichter, geradstämmiger Bäume und befand mich alsbald auf der andern Seite des Hügelrückens, wo ich zu einem Bach niederstieg, der durch ein enges Tal floß. Ich stand still und horchte. Die Entfernung oder die dazwischen liegenden Dickichtmassen erstickten jeden Schall, der vielleicht noch aus der Ummauerung drang. Die Luft war still. Dann tauchte raschelnd ein Kaninchen auf und sprang den Hang vor mir hinauf und davon. Ich zögerte und setzte mich an den Rand des Schattens.
Die Stelle war hübsch. Der Bach war in der üppigen Vegetation der Ufer verborgen; nur an einer Stelle sah ich einen dreieckigen Ausschnitt seines glitzernden Wassers. Auf der anderen Seite entdeckte ich durch den bläulichen Nebel hindurch eine Wildnis von Bäumen und Schlinggewächsen und darüber das leuchtende Blau des Himmels. Hier und dort bezeichnete ein weißer oder roter Fleck die Blüte einer Luftpflanze. Ich ließ meine Augen eine Zeitlang über diese Szenerie wandern, und dann begann ich von neuem an die sonderbaren Eigenheiten von Montgomerys Diener zu denken. Aber es war zu heiß, um zusammenhängend zu denken; und bald verfiel ich in einen unruhigen Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen.
Daraus weckte mich nach, ich weiß nicht, wie langer Zeit ein Rascheln in den Büschen am anderen Ufer. Einen Moment lang sah ich nichts als die wogenden Spitzen der Farne und Kräuter. Dann erschien plötzlich etwas am Ufer des Baches - erst konnte ich nicht erkennen, was es war. Es beugte den Kopf zum Wasser und begann zu trinken. Dann sah ich, daß es ein Mensch war, der wie ein Tier auf allen vieren ging!
Er war in bläuliches Tuch gekleidet, hatte kupferfarbene Haut und schwarzes Haar. Es schien, als wäre groteske Häßlichkeit das unabänderliche Merkmal dieser Insulaner. Ich konnte das Schlürfen hören, als der Mensch trank.
Ich beugte mich vor, um ihn besser zu sehen, und ein Stück Lava, das meine Hand gelöst hatte, kollerte den Hang hinunter. Er blickte schuldbewußt auf, und seine Augen begegneten den meinen. Sofort sprang er auf die Füße, wischte sich mit seiner plumpen Hand den Mund und sah mich an. Seine Beine waren kaum halb so lang wie sein Rumpf. Wir starrten uns verwirrt an und verharrten so wohl eine Minute lang. Dann schlich der Kerl durch die Büsche rechts von mir davon, wobei er ein- oder zweimal stehenblieb, um zurückzublicken; ich hörte das Geräusch des Laubes in der Ferne schwächer werden und ersterben. Noch lange, nachdem er verschwunden war, blieb ich sitzen und starrte in die Richtung, die er eingeschlagen hatte. Meine schläfrige Ruhe war dahin.
Ich erschrak über ein Geräusch hinter mir, wandte mich um und sah den nickenden weißen Schwanz eines Kaninchens den Hang hinauf verschwinden. Ich sprang auf die Füße.
Die Erscheinung dieses seltsamen, halbtierischen Geschöpfes vorhin hatte plötzlich die Stille des Nachmittags belebt. Ich sah mich nervös um und bedauerte, daß ich unbewaffnet war. Dann fiel mir ein, daß der Mensch, den ich eben gesehen hatte, in bläuliches Tuch gekleidet war, daß er nicht nackt war, wie es ein Wilder gewesen wäre, und ich versuchte mir deshalb einzureden, daß er ein friedliches Wesen sein müsse, trotz der stumpfen Wildheit seines Gesichts.
Und doch hatte mich die Erscheinung stark beunruhigt. Ich ging den Hang nach links hinauf, wendete den Kopf und spähte zwischen den Baumstämmen hindurch. Warum sollte ein Mensch auf allen vieren gehen und Wasser schlürfen? Gleich darauf hörte ich wieder ein tierisches Klagen, und da ich es für das des Pumas hielt, wandte ich mich um und ging in der dem Geräusch diametral entgegengesetzten Richtung davon. Das führte mich zum Bach hinunter, den ich überschritt; dann bahnte ich mir einen Weg durch das Unterholz.
Mich erschreckte ein großer, leuchtendroter Fleck am Boden, und als ich ihn näher betrachtete, sah ich, daß es eine sonderbare Schwammart war, verästelt und runzlig wie eine blättrige Flechte; aber bei der Berührung zerfloß sie zu Schleim. Und dann traf ich im Schatten einiger Farne auf etwas Unerfreuliches, den Kadaver eines Kaninchens, der mit glitzernden Fliegen bedeckt, aber noch warm war; der Kopf war abgerissen. Ich blieb beim Anblick des verspritzten Blutes erschrocken stehen. Hier war zumindest einer der Besucher
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