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Die Insel des Dr. Moreau

Die Insel des Dr. Moreau

Titel: Die Insel des Dr. Moreau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. G. Wells
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zerrissenen Kleidern kam ich zu einer kleinen Bucht, die sich nach Norden öffnete. Ich ging, ohne zu zögern, geradewegs ins Wasser und stand gleich darauf knietief in einer schwachen Strömung. Schließlich kletterte ich am westlichen Ufer wieder heraus und kroch, während mir das Herz laut schlug, in ein Farndickicht, um den Ausgang abzuwarten. Ich hörte den Hund - es war nur einer - näher kommen und bellen, als er die Dornen erreichte. Dann hörte ich nichts mehr und wiegte mich in der Hoffnung, daß ich entkommen war.
    Die Minuten vergingen, die Zeit zog sich hin, und nach einer Stunde der Sicherheit faßte ich wieder neuen Mut.
    Mittlerweile hatte ich weniger Angst und fühlte mich nicht mehr so elend. Denn ich hatte gleichsam die Grenze des Schreckens und der Verzweiflung überschritten. Ich wußte, daß mein Leben praktisch verloren war, und dieses Wissen erlaubte mir, alles zu wagen. Ich hatte sogar den Wunsch, von Angesicht zu Angesicht mit Moreau zusammenzutreffen. Und ich hielt mir vor Augen, daß mir ein Weg der Flucht vor der Qual immer offenblieb - sie konnten mich nicht gut daran hindern, mich selbst zu ertränken. Ich war schon nahe dran, aber ein merkwürdiger Wunsch, das Abenteuer zu Ende zu führen, eine unerklärliche Neugier hielten mich zurück. Ich streckte meine Glieder, die von den Dornenstichen wund waren, aus und blickte um mich auf die Bäume; und plötzlich fiel mein Auge auf ein schwarzes Gesicht, das mich beobachtete.
    Ich sah, daß es das affenartige Geschöpf war, das dem Boot am Strand entgegengekommen war. Der Kerl hing am schrägen Stamm einer Palme. Ich griff nach meinem Stock und sprang vor ihm auf. Er begann zu schwatzen. »Du, du, du«, war alles, was ich zunächst verstehen konnte. Plötzlich ließ er sich vom Baum fallen, bog die belaubten Zweige auseinander und starrte mich neugierig an.
    Ich fühlte diesem Geschöpf gegenüber nicht den gleichen Widerwillen, den ich bei meinen Begegnungen mit den anderen Tiermenschen empfunden hatte. »Du«, sagte er, »im Boot.« Also war er ein Mensch - wenigstens ebensosehr Mensch wie Montgomerys Diener -, denn er konnte reden.
    »Ja«, sagte ich, »ich bin im Boot gekommen. Vom Schiff.«
    »Oh!« sagte er, und seine glänzenden, rastlosen Augen musterten mich, meine Hände, den Stock, den ich trug, meine Füße, die zerfetzten Stellen an meinem Rock und die Schnitte und Schrammen, die ich von den Dornen davongetragen hatte. Ihn schien etwas zu verwirren. Seine Augen glitten auf meine Hände zurück. Er hob seine eigene Hand und zählte langsam: »Eins, zwei drei, vier, fünf - äh?«
    Ich begriff noch nicht, was er meinte. Später sollte ich entdecken, daß ein großer Teil dieser Tiermenschen entstellte Hände hatte, denen bisweilen bis zu drei Finger fehlten. Da ich aber damals glaubte, dies sei ein Gruß, tat ich das gleiche. Er grinste mit ungeheurer Befriedigung. Dann wanderte sein schneller, schweifender Blick wieder umher. Er machte eine rasche Bewegung und verschwand. Die Farne schlugen da, wo er gestanden hatte, zusammen.
    Ich folgte ihm und war erstaunt, ihn mit seinem dürren Arm an einem Strick von Schlingpflanzen schwingen zu sehen, der aus dem Laub oben niederhing. Er wandte mir den Rücken zu.
    »Hallo!« sagte ich.
    Er landete mit einem wirbelnden Sprung auf dem Boden und stand vor mir. »Hör mal«, fragte ich, »wo kann ich etwas zu essen bekommen?«
    »Essen!« sagte er. »Essen Menschennahrung jetzt.« Und seine Blicke schweiften wieder zu der Lianenschaukel. »Bei den Hütten.«
    »Aber wo sind die Hütten?«
    »Oh!«
    »Ich bin neu hier, weißt du.«
    Da drehte er sich um und ging mit schnellem Schritt davon. Alle seine Bewegungen waren merkwürdig rasch. »Komm mit«, sagte er. Ich ging mit ihm, um das Abenteuer zu Ende zu führen. Ich dachte, die Hütten, wo er und andere vom Tiervolk wohnten, wären primitive Behausungen. Ich würde die Tiermenschen vielleicht freundlich gesinnt finden, könnte vielleicht von ihrem Geist Besitz ergreifen. Ich wußte noch nicht, wie weit sie das menschliche Erbe vergessen hatten, das ich ihnen zuschrieb.
    Mein affenartiger Begleiter trabte neben mir her; seine Hände hingen nieder, sein Kiefer war vorgeschoben. Ich fragte mich, wie es wohl um sein Gedächtnis bestellt sein mochte. »Wie lange bist du schon auf dieser Insel?« fragte ich.
    »Wie lange?« sagte er. Und nachdem ich die Frage wiederholt hatte, hielt er drei Finger hoch. Das Geschöpf war nicht viel mehr als ein

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