Die Insel des Magiers
Art ahnte ich etwas von ihrem Alter, etwas von ihrem Geheimnis. Doch nicht ihr ganzes Geheimnis. Nein, nicht das ganze.
Während ich mir den Weg zum Bachufer hinunter bahnte, scheuerten die Gräser an meinen Schienbeinen und saugte der Schlamm an meinen Zehen. Trotz der kleinen Geräusche ringsherum hing eine Stille über dem Tal und ein Gefühl großer Kraft. Mein Nacken prickelte vor Erregung. Die Tatsache, daß ich diesen Ort gefunden hatte, gab mir das Gefühl, größer zu sein, weiter, irgendwie mehr. Diese Ausdehnung meiner Welt hatte auch mich wachsen lassen. Es war das erstemal im Leben, daß etwas mir gehörte und sonst niemand. Mir war, als hätte ich eine Erbschaft gemacht. Es war mein erster Tag als Mann.
Der Bach verzweigte sich in mehrere kleinere Rinnsale und verschwand schließlich im dicht verfilzten Gras. Mit glucksenden Schritten watete ich durch das kleine Delta zum Fuß der Fichte und fand eine Stelle, wo die Sonne einstrahlte und wo die Grasbüschel trocken waren. Ich setzte mich, blickte zu den langen Ästen empor und meinte zu fühlen, wie das Leben langsam durch den großen Baum pulste, ähnlich dem Blut, das mir manchmal in den Ohren rauschte, wenn ich dalag und auf den Schlaf wartete. Ein dunkler Schatten kam über die Talwände angehuscht und landete auf einem Ast über meinem Kopf. Es war ein Vogel, himmelblau, doch am Hals und an den Flügelspitzen mit feinen abendroten Streifen. Er beäugte mich mit so ruhigem Interesse, daß ich beinahe erwartete, er werde sich mir in der Art meiner Mutter mitteilen, mit Grunztönen oder Gesten.
Wir saßen da und beobachteten uns gegenseitig, der Vogel und ich, und langsam beschlich mich ein seltsamer Gedanke: Es war nicht der bunte Vogel, der mich prüfend betrachtete, sondern die alte Fichte selbst. Augenlos, wie sie war, hatte sie ein Wesen mit Augen gerufen, damit sie mich, etwas Fremdes, einen Eindringling in ihrem altangestammten Reich, anschauen konnte. Diese wunderliche Überlegung löste eine weitere, noch beklemmendere aus: Handlos, wie sie war, konnte sie da nicht etwas mit beweglichen Fingern, mit greifenden Klauen herbeirufen, das mich festhielt, bis sie entschieden hatte, was mit mir geschehen sollte?
Ich stand vorsichtig auf. Der Vogel neigte nur das Köpfchen, um seine hellen Augen weiter auf mich richten zu können. Ich wich zurück, bis ich aus der Sonne war und die Wiese wieder weich und sumpfig unter meinen Füßen wurde, dann drehte ich mich um und stieg die Uferböschung empor auf die Dornenhecke zu. Das Tal war vollkommen still geworden – keine Libellen mehr, kein die Gräser wiegender Wind, selbst das Murmeln des Wassers klang jetzt gedämpfter. Im gemächlichen Schlenderschritt zu gehen mit dem Gefühl, daß etwas hinter mir mich beobachtete, war das Schwierigste, was ich bis dahin je getan hatte. Ich spürte den Blick des Vogels im Rücken wie einen Finger, der auf meine Wirbelsäule drückte.
An der Dornenhecke angekommen, drehte ich mich um. Das Tal lag immer noch da wie ein juwelenglänzendes Ei im Nest. Die Fichte ragte immer noch himmelhoch empor. Der bunte Vogel war fort.
Als die Furcht abklang, trat ein trotziger Zorn an ihre Stelle. Das war mein Tal, sagte ich mir. Ich hatte keine Worte dafür, doch in einer Welt, wo die knorrigen braunen Finger meiner Mutter mir jederzeit alles entreißen konnten, war die Vorstellung so deutlich wie eine einzelne Wolke an einem leeren Himmel. Mein. Selbst der Baum, was er auch darstellen mochte, was er auch von mir denken mochte, war irgendwie mein. Ich ließ mich nicht vertreiben. Ich würde an diesen Ort zurückkehren, wann es mir beliebte.
Ich neigte das Haupt vor der alten Fichte, um einen Ebenbürtigen zu grüßen, nicht einem Sieger zu huldigen, und machte mich dann an den schwierigen, schmerzhaften Rückweg unter den Dornen hindurch.
Sag nichts, Miranda! An deinem Blick erkenne ich, daß du dich nur allzugut an den Ort erinnerst. Daß du dich an deinen… Verrat erinnerst. Was gäbe es sonst für ein Wort dafür? Bei all den Bataillonen von Substantiven und Verben, die mir in Reih und Glied zu Gebote stehen, finde ich doch keine andere Möglichkeit zu benennen, was du mir dort antatest. Ruhig! Ruhig! Hier, fühle meine Hand an deinem Hals! Besser, du wehrst dich nicht. Der Teil der Geschichte ist noch nicht dran. Und du mußt sie ganz hören.
Aber wieder bin ich vorgeprescht. Wir haben noch viel Zeit, mehr als genug. Bevor du und dein Vater erschient, bevor meine
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