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Die Insel des Magiers

Die Insel des Magiers

Titel: Die Insel des Magiers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Mutter starb, bevor ich in das verborgene Tal vordrang, lebte ich bereits. Meine Geschichte wird heute nacht zum ersten- und zum letztenmal erzählt, drum will ich sie von Anfang bis Ende erzählen.
     
     
    Meine erste Erinnerung ist an meine Mutter, tief über das Herdfeuer gebückt, den flackernden Schein auf dem scharfgeschnittenen Gesicht, das Sonne und Ruß gedunkelt hatten wie altes Leder. Wie alt war ich da? Ich werde es nie erfahren. Es war ein Abend wie viele, viele hundert andere.
    Wir lebten in einer Hütte aus windschiefen Knütteln, die sie am Rande des Waldes gebaut hatte. Ein weitläufiger sandiger Vorplatz erstreckte sich vom Eingang zum Meer hinunter. Ich mußte staunen, als ich einmal dorthin zurückging, Miranda, nach all den Jahren in dem Anwesen, das dein Vater gebaut hatte – nein, das eigentlich zum größten Teil ich gebaut hatte, als ein nach seinem Willen fronender Sklave. Doch als ich dann die Hütte aufsuchte, in der ich geboren worden war und gelebt hatte, überraschte es mich, wie klein sie war, kaum geräumiger als eine Schale für einen mannsgroßen Krebs. Meine Mutter und ich hatten die meiste Zeit unter freiem Himmel verbracht, und vielleicht hatte die Vorstellung dieses viel größeren, alles überwölbenden Daches meine Erinnerungen gefärbt. Es war eine dunkle Höhle, das Haus meiner Kindheit, mit einem Loch in der Decke, durch das ein Teil des Rauchs – aber nie genug – entweichen konnte.
    Meine Mutter war verrückt, wie vermutlich auch ich heute verrückt bin. Was sonst soll mit Menschen geschehen, die ihres ganzen Lebens beraubt wurden, und das keines größeren Verbrechens wegen, als zu sein, was sie sind? Diese würgende, schier erstickende Gemeinheit ist ein unablässiges Leiden, mit dem man zwar leben, aber das man nie vergessen kann. Wenn ich jedoch nur die Lehren meiner Mutter und keine anderen empfangen hätte, so wäre ich, glaube ich, bei Verstand geblieben. In der Welt, die sie umgab, waren die Dinge einfach, was sie waren. Für meine kindlichen Augen war sie in der gleichen Weise unglücklich, wie der Tag heiß war oder die Flut hoch. Doch dein Vater, der noch an den Ungerechtigkeiten zu schlucken hatte, die ihm angetan worden waren, brachte mir zusätzlich zu den Worten, mit denen sich so etwas Fremdartiges überhaupt erst benennen ließ, die verfluchte Vorstellung bei, es gäbe so etwas wie Gerechtigkeit, wie Richtig und Falsch. O elender, grausamer Mann!
    Ja, auf ihre Weise war meine Mutter sicherlich verrückt. Sie sang im Gewitter, zusammengekauert in dem formlosen schwarzen Kittel, den sie am Tage ihrer Bestrafung und Verbannung getragen hatte und der das einzige war, was sie jemals anzog, auch wenn er sich noch so sehr zerschliß und durchscheuerte. Sie hockte sich draußen vor der Hütte hin, begafft von mir, der ich ängstlich durch die niedrige Tür spähte, und während die Regengüsse ihr das ergrauende Haar an den Kopf klatschten und ihre zerlumpten Sachen durchnäßten, brüllte und jammerte sie zum Himmel auf. Nur die Rhythmen, die mir zu Zeiten immer noch ungerufen ins Bewußtsein steigen, sagen mir, daß dies mehr war als tierische Wut oder Furcht. Zum Heulen des Windes und Krachen des Blitzes sang sie. Für meine kindlichen Augen waren alle drei gleich stark, gleich furchterregend.
    Zu anderen Zeiten wie zum Beispiel in der Nacht, die mein erstes Erinnerungsbild ist, saß sie am Feuer, starrte in die Flammen und träumte stundenlang leise schnalzend und gurgelnd vor sich hin. In einigen dieser Nächte schwammen mir ihre Träume in den Kopf, trübe Visionen von Dingen, die ich nicht erkannte, die aber bestimmt die Orte waren, an denen sie vor der Insel gelebt hatte: flache braune Erde, Lehmhäuser, kahle Berge. Und Gesichter, zornig und anklagend. Stell dir vor, Miranda, vor deiner und Prosperos Ankunft waren die einzigen menschlichen Gesichter, die ich kannte, die einzigen Gesichter, die meine Träume bevölkerten, die Gespenster aus den bitteren Phantasien meiner Mutter.
    Gewiß werden alle Menschen von denen geformt, die sie großziehen, aber wurde jemals ein Mensch von zwei verschiedenen Leuten, meiner verrückten Mutter und deinem kalten Vater, so krumm und schief geformt wie ich? Sie waren die zwei Gegensätze, die mein ganzes Weltall füllten. Ist es da ein Wunder, daß ich mich in dich verliebte, Miranda? Was hatte ich denn sonst? Worauf konnte ich sonst hoffen?
     
     
    Ein Sturm, den ich selbst gar nicht sah, aber oft in den

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