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Die Insel des Magiers

Die Insel des Magiers

Titel: Die Insel des Magiers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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hochgestemmt, und glitt mit dem Kopf zuerst in den Zwischenraum. Das Dornendickicht hing knapp über meinem Gesicht wie eine große Gewitterwolke und wackelte bedenklich, denn die Stöcke in meinen Händen zitterten unter dem Gewicht. Ich schob behutsam die Stöcke vorwärts und kniff vor Angst kurz die Augen zu, als die schwer herabhängende Masse den Anschein machte, auszubrechen und auf mich niederzuplumpsen, doch dann rutschte ich langsam weiter. Wieder hielten die Stöcke die Dornen eben hoch genug, nur ein oder zwei schrammten mir über die Brust und kratzten wie die scharfen Fingernägel meiner Mutter, wenn ich zu lange schlief.
    Es war ein langwieriges und grausiges Geschäft. Die beiden Stöcken wurden in meinen schwitzenden Händen schlüpfrig, Staub, der sich lange ungestört dort abgelagert hatte, rieselte mir in Mund, Nase und Augen, und meine Muskeln erlahmten. Als ich mich in voller Leibeslänge unter den Dornen befand, ging mir auf, daß ich jetzt in der Falle saß: An Umkehr war nicht zu denken, und falls die vor mir liegende Entfernung sich als zu groß erweisen sollte, falls die Dornen vielleicht die ganze Strecke bis ins Tal zugewuchert hatten, würde mich irgendwann die Kraft verlassen, der stachelnde Wust würde heruntersacken, und ich würde unauffindbar dort liegen und verbluten.
    Das Weinen erschwerte nur das Vorankommen, und so bemühte ich mich, die Tränen zurückzuhalten. Selbst wenn ich nach meiner Mutter geschrien hätte – was hätte sie machen sollen? Sie war zäh wie ein Dörrfisch und stärker als ich, aber es hätte Tage gedauert, bis sie eine solche Masse von Dornenzweigen mit ihrem Steinmesser weggehackt hätte.
    Mit langsamen, qualvollen Bewegungen der Schultern, Ellbogen und Fersen schob ich mich vorwärts, und schließlich spürte ich, wie es auf meinem Gesicht heller wurde. Die Zweige lichteten sich! Mit neuer Hoffnung kam neue Kraft: Ich machte weiter, bis zuletzt mein Kopf unter der Hecke hervorschaute. Die Sonne ließ den mit Schweiß vermischten Staub auf meinem Gesicht zu einer dünnen Schlammaske erstarren, während ich mich nach und nach ganz unter den Dornen hervorarbeitete. Als auch meine Füße draußen waren, völlig zerschunden und blutig, rollte ich mich auf die Seite und lag keuchend im Schmutz wie das verwundete, verängstigte Tier, das ich war.
    Aber die Jugend verkraftet vieles, Miranda. Der Meinung bist du offensichtlich auch, denn hast du nicht vorhin deine eigene Tochter weggeschickt in dem sicheren Glauben, daß die Dinge, die heute ihr Gemüt verdüstern, morgen vergessen sein werden? Ja, die Jungen verkraften wirklich vieles… wenn sie nicht über die Grenze ihrer Belastbarkeit hinausgetrieben werden. So dauerte es nicht lange, bis der junge Kaliban – oder der junge Namenlose, der ich damals noch war – wieder auf den Beinen stand und das neue Land bestaunte, das seine Tapferkeit ihm erobert hatte.
    Erinnerst du dich noch an das Tal, Miranda? Ich habe dich einmal dorthin mitgenommen. Bestimmt erinnerst du dich an den Ort, den Tag. Bestimmt.
    Hinter den Dornen lag ein kleines Paradies, in dem jedermann, ob Christ oder Heide, nach dem Tode mit Freuden erwachen würde. Neben mir am Hang floß ein Bach herab, dessen Quelle in den Tiefen der Dornenhecke verborgen lag. Hohes, windgeriffeltes Gras, das mir bis zu den Knien reichte, säumte den Lauf des Baches wie ein langer Kamm und dehnte sich am Grund des schmalen Tals zu einer kleinen Wiese aus. Um die Wiese herum stand ein Ring schlanker, rundblättriger Bäume, Schutzgeistern ähnlich. In ihrer Mitte ragte das einzige Ding auf, das höher war als die Wände des Tals, eine riesige, uralte Fichte. Ich hatte ihre nadelige Spitze von anderen hohen Plätzen auf der Insel aus gesehen, doch soweit ich überhaupt einen Gedanken an sie verschwendete, war ich davon ausgegangen, daß sie irgendwo an den steilen Talwänden wuchs. Jetzt sah ich, daß ihr Stamm alle anderen Bäume, die ich je gesehen hatte, bei weitem überragte und daß die mächtigen Wurzeln in ihrem Wachstum die Felsen so mühelos beiseite gedrängt hatten, wie ein unruhiger Schläfer seine Decke wegstrampelt.
    Obwohl alles dort im Tal mir neu war – das melodische Rauschen des Wassers, so viel sanfter und freundlicher als das ständige Rumoren der See, das Brummen der funkelnden Libellen, die mir am Ohr vorbeischossen –, war es die alte Fichte, die meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie schien auf mich gewartet zu haben. In meiner wortlosen

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