Die Insel des Magiers
retten konnte.
Ich schrie natürlich nach meiner Mutter, ich kreischte, bis ich nur noch krächzende Pfeiftöne hervorbrachte, aber in der Beziehung hatte ich mir mein Unglück selber zuzuschreiben: Sycorax hatte sich an mein Herumstromern gewöhnt, auch wenn sie es nicht guthieß. Es konnte geschehen, daß ich bei der Heimkehr eine Tracht Prügel bekam, doch sie hatte es schon lange aufgegeben, nach mir zu suchen, da sie wußte, daß ich Verstecke kannte, die ihr unerreichbar waren. Die Lichtung hallte von meinem wortlosen Heulen und Brüllen wider, ich schrie so laut, als wollte ich den Himmel von seinen tragenden Säulen stürzen, doch niemand kam.
Die Sonne stieg derweil immer höher, klärte und wärmte die wolkengraue Luft und ließ das letzte Naß am Boden und auf den Pflanzen verdampfen – doch vorher leckte ich noch jeden verbliebenen Regentropfen ab, an den ich herankam.
Je heißer es wurde, um so schwächer und benommener wurde ich, bis es mir vorkam, als könnte ich einfach von dem Ast schweben wie ein Ascheteilchen und über die rauhen Berge davonwehen. Einmal meinte ich zu fühlen, wie mein Geist aus dem Körper schlüpfte und zum Strand hinüberflog, wo meine Mutter auf einem heißen Stein neben dem Feuer Küchlein buk, doch falls es mich wirklich dorthin trug, bemerkte sie meine geistige Anwesenheit, meine Not nicht. Ihr Rücken blieb gekrümmt, ihr Gesicht mir abgewandt, während sie aus der Wurzelmasse klebrige Bälle formte. Es kann gut sein, daß ich in meiner Verzweiflung nur träumte, meinen Körper verlassen zu haben – mit Sicherheit war mir der Anblick meiner Mutter, wie sie Wurzelküchlein buk, sehr vertraut. Auf jeden Fall kam sie nicht. Die Hitze wurde drückend. Ich nickte immer wieder ein. Dann klangen der Schmerz und die Angst kurzzeitig ab, und ich ließ mich in die Erleichterung hineingleiten wie in kühles Wasser. Im nächsten Augenblick schreckte ich mit rasendem Herzen auf, weil ich gemerkt hatte, wie ich langsam vornüberkippte. Und die Bache sah immer noch zu mir herauf und wartete.
Und irgendwann zog sie ab. Ohne ersichtlichen Grund, lange bevor die Sonne im Westen den Horizont berührte, stieß sie plötzlich ein ärgerliches Grunzen aus und trampelte durch das Gras davon. Ihre Jungen hoppelten als wuselnder Haufen hinter ihr her und rempelten sich dabei vor Hast, den Anschluß nicht zu verpassen, fast gegenseitig um. Endlich war sie fort… oder etwa nicht? Mein gräßlicher Durst und das Pochen und Reißen in meinem Bein drängten mich, den Baum zu verlassen, doch meine Furcht vor der Bestie war größer. Ich wartete ziemlich lange, bis ich vorsichtig herunterkraxelte.
Der Abstieg war eine Qual. Selbst mein gutes Bein war steif und schmerzte; wie das andere sich anfühlte, überlasse ich deiner Phantasie. Und das Klettern brachte die Wunde wieder zum Bluten. Ich versuchte, die ersten paar Schritte zu rennen, für den Fall, daß die Bache zurückkam, doch es ging nicht – ich konnte kaum einen Fuß vor den anderen setzen. Mehrmals fiel ich auf meinem Rückweg zum Strand hin. Beim letztenmal wäre ich fast nicht mehr aufgestanden, so mächtig war der Drang zu schlafen, in die lockende Nacht abzusinken.
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit hatte ich es endlich geschafft. Es war eines der wenigen Male, daß ich meine Mutter Sycorax erschrecken sah. Sie hatte schon die Hand zum Schlag erhoben, da sah sie mein Bein, das vom Fuß bis zum Schenkel mit verkrustetem wie auch mit neuem, klebrigem Blut überzogen war. Ihre Augen traten hervor, und sie stieß einen gurgelnden Schrei des Entsetzens aus, den ich aber kaum hörte.
Sie war ungewöhnlich zärtlich, nachdem sie die Wunde gesäubert, sie mit Wurzelbreipackungen bedeckt und mein Bein mit einem abgerissenen Streifen Stoff von ihrem einzigen Kleidungsstück fest umwickelt hatte. Sie führte mich in die Hütte, nahm meinen Kopf in den Schoß und flößte mir einen heißen Trank ein, dann summte sie mich wortlos in den Schlaf.
Du fragst dich, warum ich dir diese Geschichte erzähle, Miranda, das sehe ich dir an. Und gleichzeitig hoffst du, ich möge mich so weit in meinen Erinnerungen verloren haben, daß ich jetzt einfach vor mich hinbrabbele und gar nicht merke, wie die Zeit verfliegt. Dem ist nicht so, meine wankelmütige Freundin. Ich weiß, wann die nächste Wache kommt und wie lange es dann dauert, bis der alte Somnambulo vermißt wird. Und alles, was ich dir erzähle, hat einen Grund. Meine Rede ist heiß, doch
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