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Die Insel des Magiers

Die Insel des Magiers

Titel: Die Insel des Magiers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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wurde mir eiskalt, und ich klappte das Buch zu. Den Blick hatte ich schon einmal gesehen.
    Die auf dem Grund der Grube hockende Bache war dermaßen mit Schlamm bedeckt, daß sie fast wie ein Auswuchs der aufgerissenen Erde aussah. Ihre Augen funkelten böse aus dem Dunkel hervor, und als sie mich wieder erblickte, riß sie ihren Rachen weit auf, einen bebenden roten Schlund mit mächtigen Hauern, und brüllte abermals vor Zorn. Eine Wolke ihres stinkenden Atems stieg zu mir empor.
    Doch sie war gefangen, und das sah man in allen ihren Bewegungen, hörte man in ihren Schreien. Ihre ganze Kraft und Wildheit konnten daran nichts ändern. Sie war hilflos. Was ihr vor die Hauer kam, konnte sie stoßen und zerstören, aber gegen ihre eigene Körpermasse konnte sie sowenig ankämpfen wie gegen die nachgebende Erde, die unter ihren Sprüngen nur wegbrach. Sie verstand nicht, daß es für sie kein Entkommen gab.
    In gleichem Maße erfreut wie entsetzt sah ich, daß sie in ihrer ohnmächtigen Wut auf ihre eigenen Beine eingehackt hatte, so daß sie genauso dick mit schmutzigem Blut verkrustet waren, wie meine eigenen es gewesen. Ich hatte gesiegt. Und dennoch, etwas an der Maßlosigkeit ihres Leids gab mir ein seltsam leeres Gefühl. Ich schaute noch eine Weile in die verdammten, zornbrennenden Augen, dann stand ich auf und ging wieder den Hang hinunter.
    Ich weiß nicht, wie lange ich umherirrte, aber irgendwann stand ich unversehens vor der Dornenhecke, die mein geheimes Tal abschirmte. Ich arbeitete mich unter den Zweigen hindurch und watete durch die feuchte Wiese zum Fuß der großen Fichte hinunter, von der diesmal kein Gefühl der Bedrohung oder Herausforderung ausging, sondern die mich in gewisser Weise sogar willkommen zu heißen schien. Ich setzte mich mit dem Rücken an die rauhe Borke und schaute durch das dichte grüne Nadelwerk empor, bis mir von der Höhe des über mir aufragenden Stammes regelrecht schwindlig wurde.
    Beim Gehen waren meine Gedanken im Kopf in alle Richtungen ausgeschwärmt, ziellos und nichtsnutzig wie Fliegen. An den Haß, der mich vorher angespornt hatte, konnte ich mich nur noch dunkel erinnern. Ich hatte eine unbestimmte Empfindung der Bache gehabt, ihrer Erbitterung und Angst, und dabei war mir der Blick eingefallen, mit dem meine Mutter mich empfangen hatte, als ich mit meinem verwundeten Bein heimgekommen war. Hatte die Bache nicht ihre Kinder genauso beschützt, wie meine Mutter mich beschützt hätte? Durfte sie dafür bestraft werden? Beim Schmieden meiner Rachepläne hatte ich einmal daran gedacht, ihre Frischlinge anzulocken und sie vor ihren Augen umzubringen, die schlimmste Rache an einer Mutter, die ich mir vorstellen konnte und heute noch vorstellen kann. Ich fand den Gedanken auf einmal unerträglich. Welches Verbrechen konnte eine derart fürchterliche Bestrafung verdient haben?
    Welches Verbrechen, Miranda? Gewiß nichts, was so naheliegend war wie die Reaktion der Bache auf mich.
    Ich fand es auf einmal undenkbar, sie noch weiter zu bestrafen. Sie litt Todesängste dort in der Falle. Das war zweifellos genug. Wenn ich ehrlich war, schmeckte mein Sieg viel weniger süß, als ich es mir ausgemalt hatte.
    Ich überlegte, wie es möglich sein könnte, sie freizulassen, falls ich das beschließen sollte. Ich war nicht so dumm, mir einzubilden, sie würde es mir danken, weshalb jede Befreiungsmethode meine eigene Sicherheit berücksichtigen mußte. Vielleicht, so sann ich, konnte ich einen umgestürzten Baumstamm über den Rand der Grube schieben und ihn dann von einem sicheren Ast aus mit meinem Speer überkippen, so daß sie daran herausklettern konnte…
    Doch während ich noch mit diesen Gedanken spielte und das warme Gefühl der Großherzigkeit genoß, das mich durchfloß wie ein goldener Nebel, schlich sich nach und nach eine andere Regung in mein Gemüt.
    Anfangs war sie kaum bemerkbar, lediglich eine dumpfe Ungehaltenheit darüber, daß ich es überhaupt in Erwägung zog, der Urheberin meiner Verletzungen eine Gnade zu gewähren, die sie mir niemals erwiesen hätte. Doch als ich mich an den Baum zurücklehnte und zusah, wie seine Äste langsam im Wind hin und her schwankten, wurde die Empfindung stärker. Mit gleicher Intensität wie seinerzeit bei dem Vorfall selbst spürte ich aufs neue den Schmerz in meinem Bein und meine Angst vor dem drohenden Tod. Wie konnte ich so rasch vergessen, was sie mir angetan hatte? Wieder sah ich das Gesicht der gefangenen Bache vor meinem

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