Die Insel des Mondes
wird, bewirkt eine Beruhigung.
Ein platschendes Geräusch erinnert mich daran, dass der Fischer mich kurz vor Sonnenuntergang abholen wollte, aber ich kann kein Fischerboot erkennen. Merkwürdig.
Aber da höre ich es wieder. Ich trete einen Schritt näher zum Ufer und spähe durch die Gräser, suche das Wasser ab, doch in diesem Augenblick springt das Biest an Land und reißt seinen entsetzlichen Kiefer auf, und ich versuche mich daran zu erinnern, was Villeneuve über ihre verletzlichen Augen erzählt hat.
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Veilchenwurzel
Das getrocknete Rhizom der Iris florentina. Diese Wurzelstöcke sammelt man im dritten Herbste, sie riechen im frischen Zustande widerlich, erst beim Trocknen nehmen sie den schwachen, aber angenehmen Geruch an, der den Veilchen ähnelt. Die Veilchenwurzel ist für die Parfümerie von hohem Werte.
P aula war jetzt seit zehn Tagen in ihr Zelt eingesperrt und durfte es nur verlassen, um sich – unter Bewachung – zu erleichtern. Dreimal am Tag wurde ihr Nirina weggenommen und gefüttert, Paula jedoch bekam seit drei Tagen nur noch traditionelles Reiswasser zu trinken, das ihr Rakotovao persönlich überreichte. Sie hatte weder von Noria noch von Morten oder Villeneuve etwas gehört, und keine ihrer verzweifelten Fragen wurde von Rakotovao beantwortet.
Ich muss hier raus, muss flüchten, überlegte Paula schon zum tausendsten Mal. Aber es gab kein Entrinnen. Rund um ihr Zelt standen junge Männer mit Speeren, die schon unruhig wurden, wenn sie nur ihren Kopf aus dem Zelt streckte.
Sie hatte von dem unglaublichen Hunger ständig Kopf schmerzen, die Narbe auf ihrer Bauchdecke war wieder angeschwollen, die Haut drum herum war verhärtet, und jede Bewegung verursachte stechende Schmerzen, aber das alles war nichts gegen ihre Wut, die sie von innen auffraß. Manchmal spürte sie großen Zorn auf ihre Großmutter. Das Land war nicht ihr Land, die Vanilleplantage war eine Schimäre, und die Suche nach Mathildes großartigem Rezept hatte sie in Todesgefahr gebracht. Sie versuchte ihre brennende Wut zu zügeln, sie wollte stark sein und verbat sich die Frage: Stark sein – für was denn?
Sie sang immer wieder, in einer Art komischem Trotz, das Kuckuckslied, bis sie heiser war, und sie versuchte sich an die Lieblingsgedichte ihres Bruders zu erinnern. Wer die Schönheit angeschaut mit Augen … Zum Glück hatte man ihr das Papier und die Bleistifte gelassen, und sie schrieb alles auf, was ihr durch den Kopf ging. Manchmal wachte sie nachts von einem leisen Rascheln auf, und jedes Mal hatte sie die Hoffnung, es wäre einer ihrer Reisegefährten, der gekommen war, um ihr zu helfen, aber es war immer nur der kleine Lemur, der sie mit seinen großen Augen anstarrte, als wollte er ihr etwas sagen, und dann wieder verschwand. Sie wunderte sich, dass keine ihrer Wachen auf das Tier reagierte, und kam schließlich zu dem Schluss, dass sie geträumt haben musste.
Oft dachte sie an Lázló in seinem goldenen Sarg, und sie fragte sich, was er getan hätte, jetzt, in ihrer Lage.
Dann kam sie auf die Idee, sich nur mit Papier und Bleistift an Parfüms zu versuchen, schließlich wusste sie ja, was zusammenpasste und was nicht. Aber sie war leider nicht wie Beethoven, der auch taub noch komponiert hatte. Und außerdem wurde ihr dann klar, dass Parfüm eben doch keine Musik war. Denn wenn eine Note oder eine Sinfonie längst irgendwo im Äther verklungen war, blieben die Duftnoten noch auf der Haut, veränderten sich, reicherten sich durch die Wärme an, und um alles das erfahren zu können, musste man riechen können. Wenn meine Nase nicht blind wäre, überlegte Paula, dann würde es Sinn ergeben, ein Parfüm mit einem Aroma von Kloake, altem Blut und verdorbenem Fisch zu kreieren. Ich könnte es in die kleine Phiole füllen und den Deckel unauffällig lockern, sobald ich die Hühnerteile heruntergeschluckt habe, dann würde alles sofort herauskommen. Sie schüttelte sich, das waren sehr unappetitliche Gedanken, aber sie wollte überleben.
Dann trat Rakotovao eines Morgens überraschend in ihr Zelt. Als Paula klar wurde, was das festliche Gewand der Dorfvorsteherin zu bedeuten hatte, wurde ihr ganz flau. Rakotovao trug einen rotgoldenen Lamba, ihr graues Haar war kunstvoll geflochten und mit roten Hibiskusblüten verziert.
»Es ist so weit.«
Paula fing an zu zittern. Obwohl sie sich die ganze Zeit danach gesehnt hatte, es hinter sich zu bringen, jagte jetzt die Angst durch ihren Körper, und ihr wurde
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