Die Insel des Mondes
übel bei dem, was ihr bevorstand. Und genau wie bei ihrer Großmutter war hier niemand, den es kümmerte, ob sie überlebte oder nicht. Mich kümmert es, versuchte sie sich zu beruhigen, mich kümmert es. Du gehst da raus und überlebst diesen Wahnsinn, denk daran, dass du Nirinas Mutter bist. Sie atmete tief durch. Du musst dich zusammenreißen.
Rakotovao rief ein paar Frauen herein, die sich daranmachten, Paula die Haare zu flechten und mit weißen Orchideenblüten zu schmücken. Dann musste sie einen frischen weißen Lamba anziehen.
Als die Frauen fertig waren, riefen sie Rakotovao herein, die zustimmend nickte, Paula am Ellenbogen nahm und sie aus dem Zelt in die gleißende Mittagssonne führte. »Wir brauchen das Licht, wir brauchen die Sonne, um zu verstehen, was Gott uns sagen will«, erklärte sie in holprigem Französisch.
Paula brach der Schweiß aus, wegen der Sonne und wegen ihrer Angst. Sie musste eine Hand vor ihre Augen halten, weil sie nach der langen Zeit im Dämmerlicht ihres Zeltes geblendet war. Die Wachen begleiteten sie auf ihrem Weg, der, fort von dem öden Grundstück ihrer Großmutter, Richtung Meer, führte. Doch nicht der Strand war das Ziel, denn sie bogen vorher nach rechts ab und gingen schweigend durch einen mit Palmen und Obstbäumen bewachsenen Hain. Sie schritten so gemächlich dahin, man hätte es für einen Spaziergang unter Freundinnen halten können, wenn sie nicht von all diesen Speerträgern umringt gewesen wären.
Plötzlich lichteten sich die Bäume, und sie erreichten einen großen runden Platz mit sauber festgestampfter Erde, auf dem die festlich gekleideten Bewohner des Dorfes im Kreis saßen. Im Kreismittelpunkt wuchs ein ausladender, uralter Mangobaum, an dem die noch unreifen Mangos in Trauben herunterhingen wie grüne Weihnachtskugeln. Neben dem Baum befanden sich eine Holzbank und ein kleiner Tisch mit verschiedenen Utensilien. Obwohl so viele Menschen hier waren, hörte Paula nicht einen Laut, kein Husten, kein Flüstern, nur das Trommeln ihres Herzens. Sie atmete heftig.
Nein, dachte sie, nein, ich will jetzt nicht an vergifteten Hühnerhäuten sterben. Ein Rascheln im Mangobaum lenkte sie ab, und sie spähte hoffnungsvoll in die prächtige Krone aus dunkelgrünen Blättern. Hatten sich ihre Reisegefährten vielleicht irgendwo versteckt, um sie zu retten? Dann raschelte es wieder, lauter diesmal, und Paula entdeckte einen Drongo, der an einer unreifen Mango pickte. Ein Drongo.
Wie passend, dachte sie, und eine Gänsehaut lief über ihren Rücken. Alles erschien ihr so unwirklich, aber sie war hier, Paula Kellermann hatte es von München nach Madagaskar geschafft, nur um jetzt ihrem Todesurteil entgegenzugehen. Diese Menschen saßen wirklich da und wollten sehen, wie ihre Götter es beurteilten, dass sie ein heiliges Tabu ihres Landes verletzt hatte. Ich musste es tun, wollte sie schreien. Ihr, die ihr eure Ahnen so hoch achtet, ihr müsstet mich doch verstehen können, ich musste es tun, eine letzte Ehre für meine Großmutter, die ihr umgebracht habt. Aber sie schwieg, denn es würde nichts ändern. Nein, das ist kein übler Traum, aus dem ich gleich erwache. Dieser Staub unter meinen nackten Füßen ist echter roter Staub, versicherte sie sich, und ich atme wirklich diese feuchtheiße, klebrige Luft und spüre die Kraft der Sonne auf meiner Haut. Es ist wahr scheinlich das Letzte, was ich in meinem Leben fühlen werde.
Mathilde, murmelte sie, Mathilde, ich habe es versucht, habe es gewagt, eine Königin zu belügen, habe ein Fady mit Füßen getreten und einem Mann den Tod gebracht, meinen Geruchssinn verloren, aber einem Kind das Leben gerettet. Ich weiß nicht, was ich jetzt noch tun könnte, aber ich flehe darum, dass dieses Gift nicht zu abscheulichen Qualen führt, sondern mich schnell tötet und dorthin bringt, wo du bist.
Rakotovao hieß sie stehen zu bleiben und starrte Paula in die Augen, während sie ihre Augenbrauen zu einer finsteren Maske zusammenzog. Paulas Puls setzte aus. Jetzt war der Moment gekommen.
»Es gibt einen Mann, der viele Opfer dafür gebracht hat, Sie ein letztes Mal zu sehen.« Rakotovao klang nicht sehr erfreut.
Paula war nicht sicher, ob sie das Französisch der Dorf ältesten wirklich richtig verstanden hatte. Wer sollte das sein? Fragen summten durch ihren Kopf, wer hatte diese Opfer gebracht? Morten, getrieben von christlichem Mitleid, oder Villeneuve, getrieben von Reue?
»Es ist Ihnen nicht gestattet, ihn anzufassen,
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