Die Insel des Mondes
Villeneuve sah zu dem Haufen, den die Soldaten aus ihren Habseligkeiten aufgeschichtet hatten.
»Das werden sie gleich anzünden«, erklärte Noria. »Wir haben kein Recht mehr auf eigenen Besitz, weil wir sowieso alle sterben werden.«
Ich habe doch nicht ein Gottesurteil überlebt, nur um doch noch zu sterben, dachte Paula, nicht nach dieser Nacht mit Villeneuve. Ich muss mit der Königin reden und ihr klarmachen, was wirklich passiert ist, sie auf unsere Seite ziehen. Aber dazu brauche ich meine Öle, sie dürfen nicht verbrannt werden, das muss ich verhindern!
Als hätte Villeneuve ihre Gedanken gelesen, stand er auf und setzte sich auf den Haufen. »Dann müssen sie mich zuerst anzünden!«
Vier Soldaten stürzten sich auf ihn, zerrten ihn von dem Haufen, schlugen ihn zu Boden, traten auf ihn ein, Blut strömte über sein rechtes Auge.
Paula schrie auf und rannte zu ihm, hätte ihn so gern berührt, aber mit den gefesselten Händen war das unmöglich. »Es geht schon«, murmelte Villeneuve.
»Es geht gar nichts«, brüllte sie, »ich habe endgültig die Nase voll von diesem Land.« Sie schrie noch lauter.
»Noria, bitte übersetze für mich, sofort, bitte! Ich habe den Krokodilfluss durchschwommen und ein Gottesurteil überlebt, und jetzt reicht es. Ich verfluche jeden, der mir oder uns ein Leid antut. Sag ihnen, es wird entsetzliche Folgen für sie und ihre Nachkommen haben, wenn sie meine Sachen verbrennen, denn es sind Geschenke meiner Ahnen!« Schwer atmend hielt Paula inne. »Und dieses Kind gehört zu mir!« Sie zeigte auf Nirina.
Die Soldaten schauten sich an.
»Noria, berichte ihnen, was du selbst gesehen hast.«
Noria schüttelte den Kopf, aber in ihren Augen blitzte der Schalk. »Das wird nicht nötig sein.« Sie zeigte auf den Haufen, von dem man Villeneuve gerade heruntergezerrt hatte. Paula drehte sich um.
Verblüfft betrachtete sie das Bild, das sich ihr bot, und dann ging es ihr wie Noria, und sie musste trotz allem, was passiert war, lächeln, denn auf dem Berg mit ihren Sachen saß wieder der Lemur, der ihr gestern auf die Schulter gesprungen war, und betrachtete sie mit seinen großen Augen, als würden sie ein Theaterstück allein zu seiner Unterhaltung aufführen. Die Soldaten tuschelten miteinander, dann teilten sie Noria mit, dass sie nichts verbrennen würden und dass man ihnen die Fesseln abnähme, wenn sie bei den Göttern schworen, nicht wegzulaufen.
Wenige Stunden später befanden sie sich auf dem Weg nach Ambohimanga, aber diesmal waren sie Gefangene der Königin und keine Gäste.
46
Vetiver
Vetiver, oder auch Ivaranchusa, Tuticorin nennt man den Wurzel stock des zwei Meter hohen Grases Andropogon muricatus Retz. Durch Destillation der Vetiverwurzel erhält man das ätherische Vetiveröl. Dasselbe ist ziemlich dickflüssig, dunkelbraun und von intensiv angenehmen, an Veilchenwurzel erinnernden Geruch.
D er Weg zurück nach Ambohimanga kam Paula sehr viel kürzer vor als die Reise von dort zu dem Dorf ihrer Großmutter, was nicht nur daran lag, dass die Soldaten effizient waren und über Ponys verfügten, auf die die Gefangenen kurzerhand verfrachtet wurden, wenn sie nicht mehr weiterkonnten. Sondern vielmehr an der Tatsache, dass Paula große Angst vor dem hatte, was sie dort erwartete.
Gestern Abend waren sie vor dem Haupttor angekommen, und man hatte dort wie jeden Abend Paulas Zelt für sie aufgeschlagen, das sie sich seit ihrer Gefangennahme mit Nirina, Villeneuve und Noria teilen musste.
Paula war schon wach, sie hatte, wie schon in den letzten Nächten, nicht viel geschlafen, und ihre Unruhe übertrug sich auf Nirina. Das Kind spürte, dass etwas Schreckliches vorging.
Paula wandte sich an die Wache vor ihrem Zelt und bat um Tee und Milch, bekam aber nur heißes Reiswasser und mit Wasser verdünnte Milch für Nirina. Nachdem sie Nirina gefüttert hatte, waren auch Villeneuve und Noria wach.
»Ich muss vollkommen verrückt gewesen sein. Was für eine Anmaßung, sich als kaiserliche Gesandte auszugeben«, sagte sie zu Villeneuve.
»Wir haben alle mitgemacht«, stellte Noria trocken fest.
Villeneuve sah sie ungläubig an. »Du hast das gewusst?« Wie Paula war auch er zu dem vertraulichen Du übergegangen.
Paula erinnerte sich daran, wie glaubwürdig Noria damals reagiert hatte, sie war wirklich eine Meisterin der Verstellung.
Noria nickte Villeneuve zu. »Ich habe euch doch erzählt, dass ich mit Morten gemeinsame Sache gemacht habe, natürlich hatten wir
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