Die Insel des Mondes
war unmöglich, sie zu lesen.
Enttäuschung brannte in ihrem Bauch wie scharfer Schnaps, sie beugte sich tiefer über das Papier, so gern hätte sie den letzten Wunsch ihrer Großmutter erfüllt. Außerdem war sie so neugierig gewesen, wie Mathilde ihr Parfüm aufgebaut hatte, was sie anders gemacht hatte als bei den anderen Parfümkompositionen in ihrem Buch.
Paula blickte über den Rand des Papiers und sah direkt in Norias Gesicht. »Nichts«, sagte sie, »nichts.«
In diesem Augenblick brach ein unglaublicher Tumult los. Nirina begann laut zu schreien, Paula und Noria starrten sich mit schreckgeweiteten Augen an.
Von überall her stürmten die Soldaten der Königin auf sie zu. Paula versteckte das Papier in ihrem Ausschnitt, auch wenn sie nichts mehr lesen konnte, es gehörte ihr.
Wenige Sekunden später erschien Rakotovao, umringt von Soldaten.
Paula frohlockte, es hatte sich wohl herumgesprochen, dass Rakotovao Gottesurteile vollstreckt hatte, obwohl sie doch verboten waren. Offensichtlich gab es auf Madagaskar doch eine funktionierende Gerichtsbarkeit, und man wollte sie sicher als Zeugen befragen. Trotzdem war ihr der Aufwand ein wenig unheimlich.
Rakotovao zeigte auf Paula und Noria, daraufhin stürmten die Soldaten zu ihnen und nahmen sie fest. Villeneuve stürzte vom Lärm aufgeschreckt aus Paulas Zelt und wurde ebenfalls sofort gepackt und zu Paula und Noria gebracht. Man band ihnen die Hände mit Stricken auf den Rücken wie Schwerverbrechern. Nirina wurde, ohne dass jemand vorher nachgefragt hätte, wessen Kind er sei, kommentarlos auf Norias Rücken gebunden.
»Was ist hier los?«, fragte Paula.
Noria rief dem Kommandanten etwas zu, der daraufhin zu ihnen kam und mit ihr ein wildes Wortgefecht austrug, im Laufe dessen Noria immer kleinlauter wurde. Schließlich senkte sie den Kopf und sackte in sich zusammen.
Die Soldaten warfen alles aus den Zelten auf einen großen Haufen.
»Was passiert hier, Noria, verdammt, rede mit uns!« Villeneuves Adern traten an seiner Stirn hervor, und Paula sah, wie seine Kiefermuskeln arbeiteten. Die letzte Nacht erschien ihr Lichtjahre entfernt.
»Die Soldaten sagen, wir haben die Königin betrogen und sind aufgeflogen. Wir sind keine Gesandten des deutschen Kaisers, sondern nichts als Goldsucher, die von Anfang an Madagaskar nur ausplündern wollten. Das gilt als Staatsverrat, und nachdem wir eine Audienz mit ihr hatten, auch als persönlicher Verrat an der Königin. Und welche Strafe darauf steht, das wissen Sie sicher noch.«
»Wie, verdammt noch mal, haben die das herausgefunden?« Villeneuve knirschte mit den Zähnen. »Es wird ja wohl nicht zufällig ein echter Gesandter aus Berlin aufgetaucht sein? Es gibt nur zwei Menschen, die von dieser Lüge wussten, der eine ist tot, der andere verschwunden. Ganz offensichtlich hat er in der Nacht, als wir das Grab geöffnet haben, das Weite gesucht.«
Paula und Noria wechselten einen Blick. Und dann erklärte ihm Paula, was in der Nacht wirklich passiert war.
Villeneuve schäumte vor Wut. Paula dachte daran, dass kein Gold in der Dose gewesen war und Noria dafür noch immer keine Erklärung geliefert hatte.
»Hat Morten das Gold?«
Noria schüttelte den Kopf.
»Wer dann?« Nachdem Paula den Zettel gefunden hatte, war sie sicher, dass auch Gold in der Dose gewesen sein musste. »Sie, Noria?«
Noria grinste und schielte zu der Dorfvorsteherin hinüber.
»Das verstehe ich nicht!«, meldete sich Villeneuve. »Die wusste doch gar nichts davon.«
»O doch.« Noria lächelte noch breiter. »Sie erinnern sich doch bestimmt an das große Fest der Totenumwendung, die Famadihana, die wir auf dem Weg nach Ambohimanga gesehen haben. Hier im Dorf huldigt man auch diesem Brauch, und ich denke, als Rakotovao nach etwa zehn Jahren die Gebeine ihres Vaters waschen und umbetten wollte, hat sie die Blechdose entdeckt und den Inhalt heimlich an sich genommen. Heimlich, denn Gold, das die Ahnen ihrem Vater geschenkt haben, hätte sie niemals für sich behalten dürfen, höchstens, um ihrem Vater ein noch schöneres Grabmal zu bauen.«
»Und sie wollte auf keinen Fall, dass das rauskommt, deshalb hat sie jede Chance genutzt, um uns loszuwerden.«
»Aber sie kann uns nicht verraten haben, denn sie hat ja bis gestern geglaubt, dass ich sterben werde und danach alle wieder von hier verschwinden und Ruhe einkehrt.«
»Letztlich ist es gleichgültig, wie das herausgekommen ist, wir brauchen einen Plan, der uns reinwäscht.«
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