Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel des Mondes

Die Insel des Mondes

Titel: Die Insel des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Mannel
Vom Netzwerk:
hell, dass sie es ohne zu stolpern bis zum Ikopa schaffte, sie stieg die Böschung hinab, und dann sah sie endlich, woher das summende Murmeln kam.
    Auf der anderen Seite des Ikopa flackerte Licht. Sie kniff die Augen zusammen. Menschen mit Fackeln schritten dicht hintereinander neben dem Fluss entlang, dessen Wasseroberfläche sich durch die Spiegelung in ein Band aus Feuer verwandelt hatte. Es waren Mädchen, sehr junge Mädchen, alle in weiße Lambas gekleidet. Jede balancierte auf ihrem Kopf ein hohes Gefäß. Und während sie stetig vorwärtsschritten, summten sie die immer gleichen Worte, die Paula nicht verstehen konnte. Eine Gänsehaut lief über ihren Rücken, was hatte das zu bedeuten? Diese Prozession verströmte einen heiligen Ernst, der Paula sogar noch auf der anderen Seite des Flusses berührte. Wohin liefen all die Mädchen? Man hatte ihr viele Geschichten erzählt über die merkwürdigen Rituale auf dieser Insel, es wurde sogar behauptet, einige madagassische Stämme brächten Menschenopfer. Nein, es wurden doch wohl unmöglich so viele Mädchen auf einmal geopfert?
    »Tsara …«, flüsterte eine Stimme neben ihr. Paula schrak zusammen und fuhr herum. Es war Noria, anders als Paula vollständig angekleidet, weil sie Tag und Nacht das gleiche Gewand trug. »Tsara, schön«, wiederholte sie, »diese Mädchen sind wunderschön, oder nicht? Es wird uns ein ganzes Jahr lang Glück bringen, dass wir sie gesehen haben.« Noria sah Paula dabei widerwillig an, als fände sie, dass sie dieses Glück nicht verdient hätte, aber Paula war zu neugierig, um sich daran zu stören.
    »Was hat das zu bedeuten, wohin laufen sie?«
    »Es sind die siebzig Unverheirateten, die das Wasser für das Neujahrsbadefest holen. Es ist eine große Ehre für jedes Mädchen, das dazu auserwählt wird.«
    »Ich verstehe das nicht.«
    Noria lächelte abschätzig. »Die Unverheirateten sind Jung frauen, aber dieses Wort kennen wir auf Malagassy nicht, weil dieser Zustand für uns keine Rolle spielt.«
    »Nein, nein. Das meinte ich gar nicht«, versuchte Paula ihr klarzumachen. »Ich verstehe nicht, warum diese Mädchen das Wasser holen müssen.«
    »Jedes Jahr zu Neujahr nimmt unser König oder die Königin ein rituelles Bad. Fandroana, unser Badefest. Das Wasser hierfür holen die siebzig Unverheirateten aus dem heiligen See östlich von Ambohimanga. Früher gab es einen See direkt unter dem Palast, aber der ist ausgetrocknet. Sie brechen in der Dunkelheit auf, denn die Wanne muss vor dem Aufsteigen der Sonne vollständig gefüllt sein, damit sich das Wasser mit dem Gold der Sonne füllen kann, bis die Königin zur Mittagsstunde darin badet.«
    »Warum nimmt man das Wasser nicht einfach aus dem nächsten Fluss?«
    Norias Gesicht verzog sich zu einem verächtlichen Lä cheln, und Paula schämte sich, weil ihr klar wurde, wie über heblich sie geklungen haben musste.
    »Weil in diesem See die heiligen Krokodile leben. Der Legende nach sind diese Krokodile Nachfahren unserer Ur-urahnen, der Königin Rafohy und ihrer Tochter Rangita, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts das kleine Königreich regiert haben und aus denen später die Merina entstanden sind, zu denen ich gehöre.« In dem letzten Teil des Satzes schwang großer Stolz. »Der See ist nur wenige Kilometer von Ambohimanga entfernt. Wir glauben, dass die beiden Königinnen dort in einer Piroge beigesetzt wurden und ihre Gebeine im See ruhen.«
    Paula betrachtete die Mädchen. Diese weiß und golden flackernde Karawane verströmte etwas zeitlos Schönes und löste in ihrem Bauch ein leichtes Kribbeln aus. Sie fragte sich, wie es sich anfühlen würde, dort mitzugehen. Aber sie war keine Madagassin und erst recht keine Jungfrau mehr.
    »Wird Ranavalona II. morgen auch in dieses Bad steigen?«
    »Selbstverständlich, es ist ihre Pflicht als Königin der Me rina. Und jeder ihrer Untertanen hat danach das Recht, etwas von diesem Wasser mitzunehmen, davon zu trinken oder sich etwas zu wünschen.«
    »Aber ich dachte, die Königin wäre Christin.«
    Noria nickte und kicherte. »Ist den Christen das Baden verboten?«
    Paula starrte Noria fassungslos an, Noria kicherte! »Nein, natürlich nicht«, erklärte Paula, »aber nur zur Körperpflege, man badet nicht aus rituellen Gründen.«
    »Und was ist mit der Taufe?« Noria sah immer noch belustigt aus.
    »Zugegeben, das ist etwas anderes.«
    »Und das heilige Weihwasser?«
    Paula musste jetzt auch lächeln. »Nun, jedenfalls ist es nicht

Weitere Kostenlose Bücher