Die Insel des Mondes
Dort lernte sie als Nächstes die Maceration, denn diese eignete sich am besten für zarte Blumen wie Rosen, Orangenblüten, Veilchen oder Akazienblüten. Dazu erhitzte man gereinigtes Fett in einem Kupferkessel. Dieser Kessel stand in einem Wasserbad und musste ständig auf 4 0 –50 Grad Temperatur gehalten werden. Die Blüten wurden in ein Drahtkörbchen gelegt, das man dann in das erwärmte Fett hängte, welches ihnen begierig ihren Duft entzog. Diesen Vorgang musste Paula mit immer neuen Blüten wiederholen, je nachdem, welche Intensität die so entstandene Pomade haben sollte. Aus ihr konnte Paula dann die feinsten Extrakte herstellen, indem sie die Pomade zerhackte und mit Weingeist übergoss. Das Ganze musste vier bis fünf Wochen lang stehen bleiben und wurde dann abgeseiht.
Ihr Vater besorgte ihr sogar die für die Absorption nötigen Glasrahmen. Die brauchte Paula für die ganz besonders empfindlichen Blüten wie Jasmin, Tuberosen, Jonquillen und Reseda, bei denen sich jede Art von Erhitzen verbot. Einen Meter lange, sechzig Zentimeter breite und auf einem acht Zentimeter hohen Rahmen liegende Glasplatten wurden dazu mit Fett bestrichen und mit Blüten bestreut. Die Platten stapelte Paula übereinander, und nach zwölf bis vierundzwanzig Stunden entfernte sie die Blüten und legte wieder frische auf das Fett, bis es den gewünschten Duftgrad erreichte. Danach verfuhr sie mit dem Fett genauso wie mit der Pomade, die bei der Maceration entstand. Sie verbrachte jede Minute, die sie von zu Hause entfliehen konnte, in dieser Kammer. Sie ging sogar dazu über, ihrer Mutter Lügen aufzutischen, nur um sich mit den Rezepturen ihrer Großmutter beschäftigen zu können, denn sie brachten eine ganz neue Welt in Paulas Leben: Das Parfüm der Kaiserin Eugenie, das Esterhazybouquet, Caprice de la Mode oder das Rezept für »Gestohlene Küsse«.
Von der Kammer wusste außer ihrem Vater nur Johannes-Karl, der sich dort außerordentlich wohlfühlte und dazu überging, sie regelmäßig »bei Mathilde« zu besuchen.
»Sie war auch meine Großmutter«, pflegte Jo dann zu sagen, bevor er seine Ärmel hochkrempelte und ihr dabei half, aus den Blüten Duft zu gewinnen. Ihr Vater hatte angeboten, fertige Duftöle zu besorgen, so wie damals, kurz nach ihrem vierzehnten Geburtstag, als sie begonnen hatte, sich für die Arbeit ihrer Großmutter zu interessieren. Aber Paula war ehrgeizig und wollte jetzt von Grund auf lernen, welche Blüten wie zu behandeln waren. Und das war erst der Anfang, denn für ein gutes Parfüm waren noch viele andere, oft auch tierische Stoffe nötig. Sich dann mit der Komposition eines Parfüms zu befassen war für Paula eine spannende Aufgabe, der sie sich mit nicht enden wollender Wissbegierde hingab. Es klang so einfach: Eine Duftkomposition wirkt auf drei Ebenen, sie besteht aus Kopf-, Herz- und Basis note. Das, was man gleich nach dem Auftupfen auf die Haut wahrnimmt, ist die Kopfnote, die schon nach einer Viertelstunde verflogen sein sollte, aber Neugier weckt, einlädt und der Herznote Platz macht, deren Duft einige Stunden zu riechen sein sollte. Diese Herznote bezeichnete Großmutter Mathilde als Charakter des Parfüms, in dem, wie in einem Potpourri, alle Düfte der Komposition zum Vorschein kommen sollten, und diesem widmete sie viele Überlegungen. Und dann schließlich kam der Auftritt der Basisnote mit ihren lang haftenden Ingredienzien, die mindestens für einen Tag auf der Haut bleiben sollten. Wenn Paula sich damit befasste, verging die Zeit wie im Flug, und meistens kam sie zu spät nach Hause, was ihre Mutter immer härter bestrafte, oft mit Stubenarrest. Deshalb blieb Paula dann nichts anderes übrig, als doch Öle mit nach Hause zu nehmen, um dort weiter zu experimentieren.
Interessanterweise mochte ihre Mutter all die Düfte, die Paulas Großmutter in ihren Rezepten für die Kopfnote vorgesehen hatte: Zitrusdüfte wie Zitrone, Orange, Bergamotte oder Grapefruit, aber auch fruchtige Gerüche wie Apfel-, Birnen-, Melonen- und Ananasaroma. Wann immer Paula ein paar Tropfen davon auf ihrer Haut verrieb, reagierte ihre Mutter wohlwollend, wohingegen die grünen Düfte von Stängeln und Blättern, die würzigen wie Kampfer, Minze und Eukalyptus sowie die Kräuteraromen von Thymian und Beifuß bei ihrer Mutter Irritationen und Ablehnung auslösten.
Viel schwieriger als die Kopfnote war es für Paula, sich mit der Herznote eines Parfüms vertraut zu machen. Es gab einfach zu viele
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