Die Insel des Mondes
schimmernden Bahnen herabgeperlt waren.
Aber sie fühlte kein Verlangen, ganz im Gegenteil, etwas an diesem Bild machte ihr Angst.
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Mathildes Brief
Ambalava, am Morgen des achten August 1 8 5 6
Florence, meine geliebte Tochter,
ich erspare uns die üblichen Befindlichkeitsfloskeln, denn Du wirst Dich sicher wundern, von mir zu hören, nach all diesen Jahren der Stille.
Wenn Du mein Temperament hättest, würdest Du diesen Brief ohne Zögern sofort verbrennen, ohne ihn gelesen zu haben. Doch ich setze darauf, dass Du Dich nicht verändert hast. Du warst immer schon so ein beherrschtes kleines Mädchen, nie ein zerrissenes Kleid, nie eine lose Haarsträhne – nun, vielleicht gerade deshalb, weil Du in der rauen und hässlichen Welt der englischen Piraten geboren wurdest.
Ich schreibe Dir, weil Du immer in meinen Gedanken bist und man sich seit ein paar Tagen schreckliche Dinge zuflüstert, die in der Hauptstadt vorgefallen sein sollen und die mich zu der Einsicht gebracht haben, dass ich früher sterben könnte, als ich dachte.
Es bekümmert mich, dass ich Deinen Mann und Deine Kinder nie kennenlernen werde. Doch habe ich keinen Zweifel daran, dass Du einen höchst respektablen Mann geheiratet hast, und weil es sich so gehört, hast Du ihm sicher auch mindestens zwei Kinder geboren. Ich hoffe und wünsche Dir, dass Du in der Welt, in der Du nun lebst, wirklich glücklich bist. Schon lange habe ich verstanden, dass es nicht an mir ist, für andere darüber zu entscheiden, was richtig oder falsch ist. Und genau darin liegt auch der Grund für mein schlechtes Gewissen. Ich hätte Dich damals nicht einfach nach Europa wegschicken sollen, auch wenn du glücklich mit meiner Entscheidung gewirkt hast. Ich spürte deine Abscheu vor mir, Abscheu, die Dir von den bösartigen Tölpeln in der Missionsschule eingetrichtert wurde, und ich war zu schwach, um die Verachtung in den Augen meines Kindes zu ertragen. Für diese Feigheit schäme ich mich aus tiefstem Herzen, und ich möchte, dass Du weißt, wie sehr ich diesen Fehler bereue. Und Du würdest nicht nur mir, sondern auch Dir und Deinen Kindeskindern einen großen Gefallen tun, wenn du dir irgendwann erlauben könntest, mir zu vergeben. Denn eins ist mir klar geworden, hier in Madagaskar, wo man seine Vorfahren verehrt wie Heilige: Es ist unmöglich, seiner Geschichte zu entkommen, und wenn Du nicht mit Deinen Ahnen im Reinen bist, so kann auch Deine Zukunft nicht hell und strahlend sein.
Meine geliebte Tochter, Du hast sehr lange in dem Glauben gelebt, dass Dein Vater der Pirat Jean-Marie Le Thomas ist. Aber mir blieb keine andere Wahl, und ich versichere Dir, es war eine Qual für mich, diesem Mann so lange zu Willen sein zu müssen.
Aber was hätte ich sonst tun sollen? Als Dein Vater, der Maler Copalle, und ich auf dem Rückweg von Madagaskar nach Europa in der Nähe von Nosy Be von diesem Haufen dreckiger Piraten überfallen und in das Piratennest in der Nähe von Vohemar verschleppt wurden, da war ich schon schwanger und musste alles tun, um Dich zu schützen. Dein Vater wurde auf dem Sklavenmarkt in Moramanga verkauft. Ich habe ihn nie wiedergesehen und nie wieder von ihm gehört, was schlimmer war, als seinen Tod miterleben zu müssen. Denn die Hoffnung frisst Dein Herz auf, die Hoffnung tötet alles andere ab und macht Dich zu ihrer lächerlichen Marionette.
Aber ich war schwanger, und deshalb musste ich leben! Le Thomas fand Gefallen an mir, und er war eitel genug, zu glauben, dass Du, meine wunderschöne Florence, seine Tochter wärest. Er bildete sich ein, Deine blauen Augen seien von ihm, dabei warst Du ihm so ähnlich wie der Blaufalter einer Kreuzspinne.
Doch nur deshalb haben wir überlebt, nur deshalb konnten wir später nach Réunion fliehen. Und dort konnten wir leben, weil ich Le Thomas vor unserer Flucht bestohlen hatte, und das wiederum war nur möglich gewesen, weil ich ihn im Glauben ließ, Du wärest seine Tochter. Er hatte mit keiner anderen Frau Kinder, obwohl er genug Frauen um sich geschart hatte, ich vermute, seine Lenden waren von dem Leben, das er geführt hatte, unfruchtbar.
Es war unmöglich, Dir vor unserer Flucht zu verraten, wer wirklich Dein Vater ist, denn es war für meinen Plan unerlässlich, dass dieser Halunke sich als Dein »Papa« fühlen musste. Ich war so überzeugend, dass Du mir später auf Réunion die Wahrheit nicht glauben wolltest, schließlich hatte ich Dir die ersten zwölf Jahre Deines Lebens etwas anderes
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