Die Insel des Mondes
sprechen unser allergrößtes Bedauern aus, nicht höchstselbst in dero Angelegenheiten zu jener glücklichen, doch sehr weit entfernten Insel Madagascarem reisen zu können. Wir hoffen, unsere Gesandten mögen Euer huldreiches Wohlgefallen finden, und empfehlen uns mit vorzüglichster Hochachtung und in Erwartung positivster Berichterstattung durch die genannten Gesandten.
Wilhelm, Kaiser des Deutschen Reiches von Gottes Gnaden
»Das Schreiben müssen wir danach aber verschwinden lassen. Mit diesem Betrug würden wir in Deutschland zwar nicht aufgehängt, aber inhaftiert mit Sicherheit.« Villeneuve betrachtete den Brief und las ihn ein paarmal durch. Paula war überrascht zu sehen, dass er beim Lesen die Lippen bewegte, wie jemand, der nur wenig Übung im Lesen hatte. »Ich bin mir nicht sicher, ob es so gut ist, dieses Problem mit Frankreich anzudeuten.« Villeneuve runzelte die Stirn. »Der Gedanke, dass sich die Engländer und die Franzosen zusammentun, erscheint mir gelinde gesagt eine sehr gewagte Behauptung.«
»Ich habe auf Nosy Be gehört, dass Rainilaiarivony ein Mann ist«, Paula hob beschwörend ihre Hände, »der die Ko lonialmächte gerne gegeneinander ausspielt, um seine eigene Position zu festigen. Und so ein Mann hat sicher großes Verständnis dafür, dass der Kaiser sich in mysteriösen Andeutungen ergeht. Und nur dann ergibt es Sinn, dass wir in geheimer Mission unterwegs sind, oder? Wir müssen das noch versiegeln. Ich habe ein wenig Siegellack.«
Paula erwartete, dass man sie fragen würde, woher ihr Sinneswandel kam, aber niemand sprach sie darauf an. Sie verließ Villeneuves Zelt und wäre fast über Noria gestolpert, die dicht am Eingang gestanden hatte. Paula erschrak, fürchtete, sie könnte ihren Betrug mitbekommen haben, und überlegte hastig, was sie tun sollte.
»Das Essen ist fertig.« Noria deutete mit undurchdringlicher Miene auf den Topf, der im Feuer stand.
»Ich sage den anderen Bescheid«, antwortete Paula und ging zurück in das Zelt. »Ich glaube, Noria hat etwas gehört.«
»Da müsste sie schon Ohren wie ein Luchs haben«, meinte Villeneuve, »und außerdem können wir jedem weismachen, dass ihr Deutsch sie zu missverständlichen Annahmen geführt hat.«
Sie setzten sich an das Feuer und bedienten sich an der klaren Hühnersuppe mit Ingwer, dazu gab es Reis. Niemand redete, alle hingen ihren Gedanken nach.
Mit jedem Löffel Hühnersuppe, den Paula aß, spürte sie in ihrem Bauch ein stärker werdendes Ziehen, das sie schon oft in ihrem Leben ignoriert und dann bitter dafür bezahlt hatte. Obwohl ihnen ein überzeugendes Schreiben geglückt war, wurde ihr klar, dass sich aus einer so monströsen Lüge nichts Gutes entwickeln konnte. Was sie taten, war nicht richtig. Nicht nur wegen der Konsequenzen, mit denen sie alle rechnen mussten, wenn herauskam, dass sie gelogen hatten, sondern vielmehr wollte sie ihr neues Leben nicht mit einer solchen Täuschung anfangen. Sie musste die Männer davon überzeugen, einen ehrlichen Weg zum Palast der Königin zu suchen, auch wenn das sehr viel länger dauern würde. Noch war es nicht zu spät.
Nach dem Essen trafen sie sich wieder in Villeneuves Zelt.
»Wo bleibt der Siegellack? Ich habe ein wunderschönes Siegel geschnitzt, den Reichsadler mit einem Helm und Federbüschen.« Lázló schwenkte begeistert sein rundes Stückchen Holz.
»Wir können das nicht machen.« Als niemand reagierte, wiederholte Paula noch einmal lauter: »Es geht nicht, wir können das nicht tun!«
»Sie hat recht.« Morten rettete sie. »Mir war nicht klar, welche Ausmaße diese Täuschung annehmen würde, und jetzt muss ich dauernd an Spruch 29 Vers 12 denken. Wenn ein Herrscher auf Lügen hört, so werden alle seine Diener zu Schurken. «
Lázló tippte sich mit dem Siegel an die Stirn. »Wir machen uns lächerlich, wenn wir jetzt umkehren.«
Villeneuve stimmte ihm zu. »Das sehe ich auch so. Und was soll denn schon passieren? Wer in Gottes Namen hat denn hier das Wappen des Kaisers gesehen, nicht einer von uns könnte es mit Sicherheit erkennen. Und auch wenn ich vorhin darüber nachgedacht habe, was dieser Betrug im Deutschen Reich nach sich ziehen würde, so ist es doch sehr unwahrscheinlich, dass dieser Brief jemals nach Deutschland gelangen wird.«
»Aber sind wir denn nicht hier, um neu anzufangen«, begann Paula, »lassen wir nicht alle etwas hinter uns, und ist es dann gut, mit einer Lüge zu beginnen?«
»Herrgott! Warum denn nicht?«
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