Die Insel des Mondes
sie wegen ihrer Lügen zur Rede stellen wollte. Dann räus perte sich Noria auch noch ein paar Mal, als ob sie sich nicht durchringen könnte, eine Frage zu stellen, was Paulas Puls schneller nach oben jagte als der anstrengende Aufstieg.
»Welcher von den Männern ist der, der Ihr Lager teilt?«, wollte Noria schließlich wissen.
Paula war zuerst sprachlos, dann unglaublich erleichtert, doch wie kam Noria auf solche Gedanken? Plötzlich fiel ihr ein, dass sie gestern mehrfach in Villeneuves Zelt gewesen war – mit den anderen Männern.
»Oder teilen alle Männer Ihr Lager?«
Obwohl Paula das Blut in die Wangen geschossen war, musste sie jetzt doch lachen. »Nein«, sagte sie, »mein Lager gehört allein mir.«
»Warum das?«
Paula starrte Noria an, und in diesem Augenblick hasste sie diese Frau, weil sie von ihr gezwungen wurde, an all das zu denken, was sie hinter sich lassen wollte.
»Das ist eine sehr persönliche Frage, die man Fremden nicht stellt.«
Noria nickte. »Aber es ist interessant für mich, zu erfahren, wer mit wem das Lager teilt und ob das freiwillig geschieht. Denn ich habe gehört, in Europa sperrt man die Frauen ein und zwingt sie, auch Männern zu Gefallen zu sein, die sie abstoßend finden.«
»Bordelle gibt es überall auf der Welt und auch in Madagaskar.«
»Nein, nein«, widersprach Noria, »diese europäischen Ein richtungen meine ich nicht. Sondern eure Art der Ehe. Man erzählt sich bei uns, dass in Europa die Mädchen gezwungen werden, Ehemänner zu nehmen, die sie nicht wollen, und dass sie auch noch Jungfrauen sein müssen.«
Paula hasste Noria noch mehr, zwang sich aber, freundlich zu bleiben. »Und hier werden die Ehen nicht von den Eltern arrangiert?«
Noria kicherte los und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. »Nur in sehr seltenen Fällen, manchmal bei den adligen Merina. Aber in der Regel entscheiden wir Frauen selbst, wem wir uns wann hingeben und wen wir heiraten wollen.«
Villeneuve, Morten und Lázló hatten sie erreicht. Deshalb hätte Paula nur zu gern das Thema gewechselt, aber Noria war in Fahrt. »Und nur weil wir ein Kind erwarten, müssen wir den Vater noch lange nicht heiraten. Warum auch, wenn er sich als ein Taugenichts herausstellt. Und Jungfrauen gelten nicht viel gegen erfahrene Frauen.« Sie grinste breit und wandte sich an Morten. »Und daran werden auch all Ihre Bibeln nichts ändern.«
Morten errötete so stark bis unter seine blonden Haarwurzeln, dass er Paula leidtat und sie überlegte, wie sie ihm helfen könnte, aber da fragte Villeneuve schon, worauf man hier eigentlich warte.
Noria rief etwas durch das Eisentor, was einen weiteren Trupp Soldaten zu ihnen brachte.
Als sie auch dieses Tor durchschritten hatten, ging es scheinbar unendlich viele Treppenstufen weiter nach oben. Paula schwitzte und war völlig außer Atem. Norias Worte wirbelten noch immer durch ihren Kopf, und sie fragte sich, ob die Frauen hier wirklich so frei waren, wie Noria behauptet hatte.
Immer wieder mussten sie erschöpft stehen bleiben, dann drehte Paula sich um und sah über die weiten roten und dunkelgrünen Ebenen, die unter ihnen lagen, schimmernd und zitternd im silbrigen Dunst.
Sie holte tief Luft, roch einen Hauch von verdorbenen Feigen, Lilien und Jasmin, der sich mit dem noch leicht feuchten Duft der roten Erde vermischte. Je weiter nach oben sie kamen, desto klarer wurde die Luft und desto ruhiger wurde es.
Schließlich erreichten sie einen weiten, leeren Platz, auf dem links ein riesiger Feigenbaum stand, dessen Blätter viel größer waren als bei den Bäumen, die Paula kannte. Um seinen mächtigen Stamm herum waren zwölf große Steine in die Rinde eingewachsen, Paula vermutete, sie symbolisierten die zwölf Königreiche, die sich der König durch die Heirat mit den zwölf Frauen einverleibt hatte.
Am Ende des Platzes erhob sich noch eine weitere Mauer, hinter der sich der eigentliche Palast befand. Paula entdeckte rechts ein sehr dunkles Holzdach, dessen spitzer Giebel die Mauer überragte. Das war nicht gerade das, was sie sich unter einem Königspalast vorgestellt hatte.
Noria bemerkte ihren Blick. »Das ist das Haus, in dem Andrianapoinimerina gelebt hat, der König, der die Merina vereint hat und dem wir das alles zu verdanken haben.« Sie wies mit ihrer Hand über die Anlage. »Niemand lebt darin, es ist ein heiliger Ort, den Europäer niemals betreten dürfen, auch nicht die Gesandten des Kaisers.«
»Sieht aus wie der baufällige
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