Die Insel des Mondes
machte. Das alles erlebte Paula in einem Zustand eigentümlicher Klarheit. Sie hörte und verstand alles, das Einzige, was sie beunruhigte, war, dass sie nichts riechen konnte, nicht Villeneuve, nicht Noria, nicht einmal Lázló, der Noria manchmal ablöste.
Sie wachte erst mitten in der Nacht wieder auf und wusste nicht, wo sie sich befand, aber dann erkannte sie Noria, die neben ihr auf einer Matte schlief. Paula stand leise auf und verließ, noch ziemlich wackelig auf den Bei nen, das Zelt. Sie spürte überall auf der Haut ein leichtes Brennen, aber dieser Schmerz war auszuhalten. Sie fragte sich, was sie mit dem Kind gemacht hatten und ob die Träger wirklich verschwunden waren.
Sie sah zum Feuer, keine Träger. Sie ging ein paar Schritte weiter, um sich zu erleichtern, und sah sich dabei um. Hier draußen war niemand. Die Träger waren wirklich weg. Auf dem Rückweg zum Zelt hörte sie das leise Wimmern, das ihr schon so vertraut war, es kam aus dem Zelt von Villeneuve. Aber es löste in ihr keine warmen Gefühle aus, sondern nur Abwehr. Sie wollte damit nichts zu tun haben. Ja, sie hatte den Säugling nicht den Ameisen überlassen, aber das war auch schon alles, es war nicht ihr Kind. Nur aus Neugier ging sie zu Villeneuve hinüber. Warum hatte sich Morten nicht dieser Seele angenommen? Eigentlich hatte sie fast erwartet, dass der Kleine schon getauft war.
Sie spähte in das Zelt und sah Villeneuve, der das Kind zart hin und her schaukelte. Gerade als sie sich wieder zurückziehen wollte, bemerkte er sie und kam auf sie zu.
»Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«, fragte er und klang ungemein wütend.
»Hätte ich zulassen sollen, dass ihn die Ameisen auffressen?«
»Warum haben Sie sich eingemischt? Wir sind in diesem Land nur Gäste und sollten die Bräuche und Sitten, die hier gelten, achten, auch wenn sie uns lächerlich vorkommen.«
»Soll das ein Witz sein? Wie heuchlerisch ist das denn? Vorhin haben Sie anders gesprochen. Sind Sie denn nicht Arzt? Muss man da nicht einen heiligen Eid schwören? Ist das Ihr Ernst, dass ein Menschenleben weniger zählt als Sitten und Gebräuche?«
»Nein.« Er schaukelte das Kind sachte immer weiter wie ein kostbares Kleinod. »Wollen Sie sich um ihn kümmern?«
»Nein!«, platzte Paula so laut heraus, dass der Junge jetzt anfing, laut zu plärren.
Villeneuve zuckte zusammen und lächelte dann sardonisch. »Sie retten ihn, aber der Rest ist Ihnen egal. Aha.« Er schob dem Jungen seinen kleinen Finger in den Mund, und er begann sofort daran zu saugen.
Paula verspürte gleichzeitig den Wunsch, Villeneuve zu ohrfeigen und wegzurennen. »Aha«, wiederholte sie, während sie überlegte, für welche der beiden Alternativen sie sich entscheiden sollte.
»Er hat Hunger. Was machen wir jetzt?« Villeneuve sah sie fragend an.
»Wir brauchen eine Amme«, sagte Paula.
»Nun, wir haben keine, ebenso wenig wie Träger, wir sind ganz wunderbar auf uns selbst gestellt, was tun wir also?«
»Einen Tee kochen?«, schlug Paula vor.
»Milch, wir brauchen Milch.« Villeneuve stöhnte. »Ich gebe ihm höchstens ein paar Tage, dann wird er sowieso sterben.«
»Lázló wird uns eine Ziege beschaffen.« Noria stand am Eingang zum Zelt. »Als er heute unterwegs war, um für uns die Buschmesser zu kaufen, hat er welche gesehen.«
Noria trat näher zu Villeneuve und nahm ihm den Säugling ab. »Madame Kellermann, es war falsch, ihn zu retten, das hat uns in große Schwierigkeiten gebracht.«
Noch bevor Paula sich verteidigen konnte, fuhr Noria fort. »Aber es war auch richtig. Ich werde ihm Tee geben.«
»Ich habe auch Hunger«, sagte Paula und folgte Noria nach draußen zum Feuer. Die Suppe stand immer noch auf dem glimmenden Feuer. Paula gab eine große Kelle davon in ihren Teebecher und probierte vorsichtig. Sie war heiß und tat ihr sehr gut.
Noria versuchte dem Kind Tee einzuflößen, was zuerst überhaupt nicht gelang, aber dann beruhigte sich der Säugling und trank einen ganzen Becher aus.
»Ich bin auch so ein Kind.« Noria flüsterte, und Paula war nicht sicher, ob sie das ihr oder dem Kind oder sich selbst erzählte.
»Ich wurde nicht nur im zweiten Monat, adaoro, geboren, dem Monat, der den Kindern Feuer und Unheil bringt. Nein, ich habe auch einen Zwillingsbruder und in Mananjary, wo ich geboren bin, ist das Fady. Heute noch Fady. Man hat mich an einem Krokodilfluss ausgesetzt, wo mich Missionare fanden, die mit dem Boot unterwegs waren.«
Paula wusste nicht,
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