Die Insel des Mondes
hatten. Sie blieb ste hen und war fassungslos. Gestern noch hatten sie gestritten und gelacht, und jetzt war nicht mehr davon übrig als ein Abdruck im getrockneten Schlamm. Ich hätte ihn küssen sollen, ging ihr durch den Kopf, warum hab ich’s nicht getan? Weder Lázlós Tod noch der Anblick seines Leichnams hatten sie zum Weinen gebracht, aber dieser Anblick raubte ihr die Selbstbeherrschung. Doch sie wusste, wenn sie jetzt anfinge, um ihn zu trauern, dann würde sie hier mit Jo sterben. Sie musste weiter gehen, Schritt für Schritt für Schritt.
Das Gepäck und die Früchte drückten schwer auf ihre Schulter, und die Lederriemen quetschten sich in ihre Haut. Ihre Schuhe waren noch immer feucht, und ihre Füße quollen auf, weshalb Fersen und Zehen bei jeder noch so kleinen Bewegung weiter aufgescheuert wurden. Leider passten ihr Lázlós Schuhe nicht, sie waren viel zu groß, sonst hätte sie sie zusammen mit trockenen Strümpfen angezogen.
Je höher die Sonne stieg und je stärker sich die feuchte Hitze entwickelte, desto drängender wurde ihr Durst, und erst nachdem sie vergeblich ihre beiden Wasserflaschen aufgeschraubt hatte, erinnerte sie sich daran, dass sie sich gestern Abend nicht mehr um frisches Wasser gekümmert hatte.
Die Pfützen vom Vortag waren in der Hitze längst ausge trocknet, und sie musste froh sein, dass es nicht schon wieder regnete, denn sie hatte jetzt schon große Schwierigkeiten, der Jasminduftspur zu folgen. Sie hoffte, dass Noria weiterhin so verschwenderisch damit umgegangen war und nicht etwa angefangen hatte zu sparen.
Ihre Zunge klebte am Gaumen, und ihre Kehle war ausge dörrt. Beunruhigt sah sie zu Jo hinunter und betete, dass er, gesättigt von dem Früchtebrei, noch lange schlafen würde.
In der Zwischenzeit brauchte sie unbedingt eine Quelle, einen Bach mit einigermaßen sauberem Wasser oder eine Ravenala, aber sie musste der Jasminspur folgen und konnte sich keine Umwege erlauben, dazu war sie zu schwach.
Wie sehr wünschte sie sich, Lázló wäre hier und würde ihr Fragen stellen, würde sie unterhalten und von ihren schmerzenden Füßen ablenken. Sie schleppte sich vorwärts und redete sich selbst gut zu. Aber immer wieder musste sie kurz stehen bleiben und verschnaufen. Sie fühlte sich äußerst unwohl, weil sie sich ständig beobachtet vorkam, und als sich urplötzlich ein grauweißer Ast, an dem sie sich abstützen wollte, bewegte, erschreckte sie sich so, dass sie beinahe Jo fallen ließ. Dabei war es nur ein Chamäleon, groß wie ein Eichhörnchen, das sich perfekt an den grauweißen Ast angepasst hatte und vor ihr flüchtete.
Ihre abrupte Bewegung weckte Jo auf, und er war nicht in guter Stimmung. Deshalb musste Paula pausieren, sich die Hände wieder an einer Jackfrucht klebrig machen, das Fruchtfleisch zu Brei zerkauen und Jo damit füttern. Dann packte sie zusammen und schleppte sich weiter. Sie hielt Ausschau nach Kokosnusspalmen, Bananen- oder Ananasstauden, aber vergeblich. Tropischer Regenwald, darunter hatte sie sich ein Blumenparadies vorgestellt, in dem ihr die Früchte in den Mund flogen wie gebratene Tauben und das saubere Wasser in silbernen Wasserfällen verschwenderisch durch schöne Landschaften floss. Ihr Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln, nichts war so, wie man es sich erträumte oder vorstellte. Nicht die Liebe, nicht die Ehe, ja, nicht einmal ihr Lieblingsessen schmeckte immer gleich. Diese Gedanken bringen dich nirgendwohin, ermahnte sie sich. Du bist nicht tot, hast einem hübschen kleinen Jungen das Leben gerettet, und du bist auf dem Weg, um in Kürze das zu Ende zu bringen, was deine Großmutter begonnen hat. Und das hast du ganz allein geschafft. Ihre innere Stimme kicherte ein leises Bravo. Aber diesen Spott konnte Paula so nicht stehen lassen. Denn alles war besser, als in einem Dorf bei München in einer elenden Souterrainwohnung zu leben. Auf einer modrigen Chaiselongue zu sitzen, ein Geschirrtuch mit Rosen oder ein Nadelkissen mit Kreuzstich zu besticken und sich zu Tode zu langweilen, weil alle Freundinnen den Kontakt zu ihr abgebrochen hatten, nein, falsch, abbrechen hatten müssen, weil ihr Mann diese unverschämten Gerüchte über sie in Umlauf gebracht hatte, um sich nach ihrer Scheidung als Held fühlen zu können. Sie hätte sich angeblich vor ihrer Ehe bei einem ihrer zahlreichen Liebhaber die Französische Krankheit eingefangen, hatte er behauptet, und nur wegen dieser, ihrer unsittlichen Ausschweifungen
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