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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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einer Schlaufe legen und versuchen, es über diese Feuermündung zu werfen, um sich dann mit den Armen hochzuziehen, die Beine gegen die Bordwand gestützt ... Aber er hatte nicht nur kein Seil, er hätte sicher auch nicht mehr die Kraft, so weit hinaufzuklettern ... Es war sinnlos, so zu sterben, so dicht neben seiner Zufluchtsstätte.
    Er musste eine Entscheidung treffen. Ob er nun rechts oder links vom Schiff zurückschwimmen würde, die Entfernung bis zur rettenden Leiter war die gleiche. Fast als hätte er es dem Los überlassen, entschied er sich, es auf der linken Seite zu versuchen und achtzugeben, dass die Strömung ihn nicht von der Daphne forttrieb.
    Mit einem Jubelschrei erreichte er den Bugspriet, zog sich am Vordersteven herum und ergriff die Jakobsleiter – und gesegnet sei Jakob samt allen anderen heiligen Patriarchen der Heiligen Schriften von Gott im Himmel, dem Herrn der Heerscharen!
    Roberto war völlig erschöpft. Eine halbe Stunde vielleicht hing er an der Leiter. Dann endlich gelang es ihm, wieder an Bord zu klettern, wo er sich daranmachte, eine Bilanz seiner Erfahrung zu ziehen.
    Erstens, er konnte schwimmen, jedenfalls von einem Ende des Schiffs bis zum anderen und zurück; zweitens, ein solches Unternehmen brachte ihn an die äußerste Grenze seiner physischen Kräfte; drittens, da die Entfernung vom Schiff bis zum Ufer selbst bei Ebbe ganz unvergleichlich viel größer war als der Gesamtumfang der Daphne , konnte er nicht hoffen, so weit schwimmen zu können, bis er etwas Festes unter die Füße bekam; viertens, die Ebbe brachte ihm zwar das feste Land näher, aber durch ihre Rückflussströmung erschwerte sie ihm das Vorwärtskommen; fünftens, wenn er tatsächlichbis zur Mitte der Strecke gelangte und dann nicht mehr weiterkonnte, würde er auch nicht mehr zurückkönnen.
    Folglich musste er mit dem Seil weitermachen, und diesmal musste es sehr viel länger sein. Er würde also so weit nach Osten schwimmen, wie seine Kräfte erlaubten, und würde sich dann am Seil zurückziehen. Nur wenn er viele Tage so übte, würde er's schließlich ohne Seil versuchen können.
    Er wählte einen ruhigen Nachmittag, als die Sonne schon in seinem Rücken stand. Er hatte ein sehr langes Seil gefunden, hatte es fest am Hauptmast verzurrt und in vielen Windungen auf dem Deck ausgelegt, so dass es sich langsam abwickeln konnte. Er schwamm ruhig, ohne sich zu sehr anzustrengen, den Blick auf den Strand und die beiden Kaps gerichtet. Erst jetzt, von hier unten aus, machte er sich richtig klar, wie weit jene gedachte Linie entfernt war, die sich vom einen Kap zum andern durch die Bucht zog und hinter der er in den vorigen Tag eintreten würde.
    Da er Pater Caspar falsch verstanden hatte, glaubte er, das Korallenriff beginne erst dort, wo kleine weiße Wellen die ersten Klippen anzeigten. Dabei begannen die Korallen, auch bei Ebbe, schon früher. Sonst wäre die Daphne ja näher am Ufer verankert gewesen.
    So kam es, dass er mit seinen nackten Füßen an etwas stieß, was im Wasser erst zu erkennen war, als er sich schon darüber befand. Fast im gleichen Moment traf ihn ein Schlag von etwas farbig Zuckendem unter Wasser, und er verspürte ein unerträgliches Brennen an Schenkel und Wade. Es war, als ob er gebissen oder mit Krallen gepackt worden wäre. Um rasch fortzukommen, stieß er sich mit der Ferse ab und verletzte sich so auch am Fuß.
    Er packte das Seil und zog sich mit solchem Ungestüm zum Schiff zurück, dass ihm, als er wieder an Bord war, die Hände bluteten; aber mehr Sorgen machte er sich um die Verletzungen an Bein und Fuß. Es waren Ansammlungen von kleinen, stark schmerzenden Pusteln. Er wusch sie mit Süßwasser aus, was das Brennen ein wenig linderte. Doch am Abend und während der ganzen Nacht wurde das Brennen von einem starken Juckreiz begleitet, und vermutlich hatte er sich im Schlaf gekratzt, so dass die Pusteln am nächsten Morgen bluteten und weiße Materie ausschieden.
    Da besann er sich auf die Präparate von Pater Caspar (Spiritus, Olea, Flores), die den Schmerz etwas abklingen ließen, aber den ganzen Tag lang zuckte es ihm noch in den Fingern, die Pusteln mit den Nägeln aufzukratzen.
    Er bilanzierte von neuem seine Erfahrung und kam zu vier Schlussfolgerungen: Das Korallenriff war näher, als der Wasserstand bei Ebbe glauben ließ, was ihn ermutigen konnte, das Abenteuer erneut zu wagen; einige Kreaturen, die auf dem Riff lebten, Krebse, Fische, vielleicht die Korallen oder

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