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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Ferrante, der vor ihr auf die Knie fällt und zu sprechen beginnt. Was sagt er? Er sagt mit falscher Stimme all das, was Roberto ihr nicht nur gern gesagt hätte, sondern ihr auch wirklich – in seinen Briefen – gesagt hatte, ohne dass sie wusste, wer da sprach.
    Woher kann der Schuft die Briefe kennen, die ich ihr geschrieben habe?, fragte sich Roberto. Und nicht nur die, die ich abgeschickt habe, sondern auch die, die mir Saint-Savin in Casale diktiert hatte und die ich doch vernichtet hatte! Und sogar die, die ich hier auf diesem Schiff schreibe! Aber es gibt keinen Zweifel, Ferrante deklamiert jetzt im Ton der Aufrichtigkeit Sätze, die Roberto sehr gut kannte:
    »Signora, in der wunderbaren Architektur des Universums stand bereits seit dem ersten Tage der Schöpfung geschrieben, dass ich Euch begegnen und lieben würde ... Verzeiht den Furor eines Verzweifelten, oder besser noch, beachtet ihn gar nicht. Nie hat man gehört, dass Herrscher vom Tod ihrer Sklaven Notiz nehmen mussten ... Habt Ihr nicht aus meinen Augen zwei Brennkolben gemacht, um mein Leben darin zu verbrennen? Ich bitte Euch, dreht Euren schönen Kopf nicht weg: Eures Blickes beraubt, bin ich blind, da Ihr mich nicht sehet, und stumm, da Ihr nicht zu mir redet, und ohne Gedächtnis, da Ihr nicht meiner gedenket ... Oh, dass die Liebe es wenigstens sei, die aus mir einen fühllosen Scherben macht, eine Mandragora, einen steinernen Quell, der alle Ängste fortweint!«
    Bestimmt zitterte jetzt die Signora, in ihren Augen glühte die ganze Liebe, die sie zuvor verborgen hatte, loderte und flammte hervor mit der Kraft eines Gefangenen, dem jemanddie Gitterstäbe der Zurückhaltung aufbricht und die Strickleiter der Gelegenheit bietet. Blieb also nur, sie noch weiter anzustacheln, und Ferrante begnügte sich nicht damit, ihr zu sagen, was Roberto geschrieben hatte, er kannte noch andere Worte, die er der Liebeskranken jetzt in die Ohren träufelte, womit er auch Roberto liebeskrank machte, der sich nicht erinnern konnte, ihr auch dies geschrieben zu haben:
    »O meine bleiche Sonne, vor Eurer zarten Blässe verliert die Morgenröte ihr ganzes Feuer! O süße Augen, nichts wünsche ich mir sehnlicher, als an Euch zu erkranken. Und vergebens fliehe ich durch Wälder und Felder, um Euch zu vergessen. Kein Wald liegt auf Erden, kein Baum steht im Walde, kein Zweig wächst am Baume, kein Blatt sprießt am Zweig, keine Blüte öffnet sich auf dem Blatt und keine Frucht entsteht aus der Blüte, darin ich nicht Euer Lächeln sähe ...«
    Und bei ihrem ersten Erröten: »O Lilia, wenn Ihr wüsstet! Ich liebte Euch schon, noch ehe ich Euer Antlitz sah und Euren Namen kannte. Ich suchte Euch und wusste nicht, wo Ihr wart. Doch eines Tages habt Ihr mich erschüttert wie ein Engel ... Oh, ich weiß, Ihr fragt Euch, wieso diese meine Liebe nicht rein im Schweigen und keusch in der Ferne verharrt ... Doch ich sterbe, o mein Herz, Ihr seht es nun selbst, die Seele entweicht schon aus mir, lasst nicht zu, dass sie sich in die Luft zerstreut, erlaubt ihr, in Eurem Munde Wohnung zu nehmen!«
    Ferrantes Ton klang so aufrichtig, dass selbst Roberto jetzt wünschte, dass Lilia in jene süße Falle ging. Nur dann würde er die Gewissheit haben, dass sie ihn liebte.
    Sie beugte sich nieder, um ihn zu küssen, dann wagte sie's nicht; dreimal näherte sie, hin- und hergerissen, ihre Lippen dem ersehnten Atem, und dreimal wich sie wieder zurück, dann schließlich rief sie: »O ja, wenn Ihr mich nicht in Ketten legt, werde ich niemals frei sein, niemals werde ich keusch sein, wenn Ihr mich nicht vergewaltigt!«
    Und sie ergriff seine Hand und küsste sie und führte sie an ihre Brust; dann zog sie ihn an sich und raubte ihm zärtlich den Atem von den Lippen. Ferrante beugte sich über jenes Gefäß der Wonnen (dem Roberto die Asche seines Herzens übergab), und die beiden Leiber verschmolzen zu einer einzigen Seele, die beiden Seelen zu einem einzigen Leib.
    Roberto wusste nicht mehr, wer in jenen Armen lag, glaubte sie doch, in den seinen zu liegen, und während er Ferrantes Mund hinhielt, versuchte er, den eigenen zu entfernen, um dem anderen nicht jenen Kuss zu gestatten.
    So kam es, dass, während Ferrante sie küsste und sie seinen Kuss erwiderte, dieser Kuss sich in nichts auflöste, und Roberto blieb nur die Gewissheit, dass ihm alles geraubt worden war. Doch er konnte sich nicht enthalten, an das zu denken, was er sich lieber nicht vorstellen wollte; denn er wusste,

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